Friedliche August-Bebel-Straße:Der Schein trügt

Erstveröffentlicht: 
25.11.2015
Anschlag auf Familie des Justizministers mit Pflastersteinen und Stinkbombe / Operatives Abwehrzentrum ermittelt

VON FRANK DÖRING

 

Fensterscheiben klirren mitten in der Nacht, Pflastersteine fliegen in die Wohnung einer Familie mit zwei kleinen Kindern: Der Anschlag auf das Zuhause des sächsischen Justizministers Sebastian Gemkow (37) in der Nacht zu gestern hat weithin Entsetzen ausgelöst. Zumal der CDU-Mann im Unterschied zu einigen Kabinettskollegen bisher als nicht besonders gefährdet galt.

 

Es ist gegen 2.15 Uhr, als zerberstendes Glas die nächtliche Stille in der August-Bebel-Straße zerreißt. Tatort August-Bebel-Straße, der feine Teil der Südvorstadt. Ein Anwohner, der nachts noch am Schreibtisch sitzt und arbeiten muss, sieht aus dem Fenster mehrere Männer. Dunkle Bekleidung, die Gesichter sind nicht zu erkennen. Sie schleudern Pflastersteine gegen die Fenster von Gemkows Wohnung im Hochparterre. Die Scheiben sind mit einer Schutzfolie versehen. Dennoch durchschlagen einige Steine die Fenster, landen in der Wohnung, krachen aufs Parkett. Offenbar systematisch nehmen sich die Täter die Hausfront vor. Ganz gezielt wird etwa das Fenster des Schlafzimmers unter Beschuss genommen. Dort, wo zu diesem Zeitpunkt auch Gemkows vor wenigen Wochen geborener Sohn schläft. Der Stein trifft aber nur die Fassade, so dass ein großes Stück Mauerwerk abplatzt. Dann wollen die Täter ein Gefäß mit stinkender Buttersäure in der Wohnung platzieren. Dies gelingt nach Angaben der Polizei aber nicht vollständig, so dass die Substanz an Fensterscheiben und Fassade herunterläuft. Dennoch riecht es noch Stunden später nach Erbrochenem. Die Dämpfe der Säure reizen Augen und Atemwege.

 

Noch in der Nacht rücken Kripo-Beamte an, Experten der Kriminaltechnik untersuchen den Tatort auf mögliche Spuren, Fährtenhunde nehmen Witterung auf.

Gemkow bringt seine Familie in Sicherheit, macht die ganze Nacht kein Auge mehr zu. Seine für den Vormittag geplante Teilnahme an der gemeinsamen Kabinettssitzung von Sachsen-Anhalt und Sachsen in Merseburg sagt er ab. „Er ist sehr gefasst, managt die Situation so gut es geht“, heißt es aus seinem Umfeld. Um 10.17 Uhr verschickt das Justizministerium ein schriftliches Statement von ihm. „Das ist ein Angriff auf den Rechtsstaat als Ganzes“, so Gemkow. „Der Rechtsstaat wird aber den längeren Atem haben als diejenigen, die ihn bekämpfen.“

 

Die Wohnung des Ministers ist vorläufig unbewohnbar. Gegen Mittag kehrt Ehefrau Nadja (30) zurück, will noch einige Sachen holen. Sie hat das Baby auf dem Arm und wirkt sichtlich geschockt. „Die Kinder haben in der Nacht fest geschlafen“, sagt sie. Schwer zu beurteilen, wie viel sie von dem Angriff mit Pflastersteinen mitbekommen haben. Verletzt wird zum Glück niemand aus der Familie.

 

Mittlerweile hat das Operative Abwehrzentrum zur Aufklärung extremistischer Straftaten die Ermittlungen übernommen. Ein Bekennerschreiben wurde zumindest bis gestern Abend nicht veröffentlicht. Dass politisch motivierte Gewalttäter Gemkow im Visier haben, hielten Sicherheitskreise bisher offenbar für wenig wahrscheinlich. Intensiven Personenschutz wie bei einigen Ministerkollegen habe es für ihn nicht gegeben, verlautete aus Behördenkreisen. Von dem Anschlag erfuhr die Polizei erst durch Anrufe von Zeugen. Das Wohnhaus verfügt auch nicht über Videoüberwachung, was eine Fahndung nach den Tätern zusätzlich erschweren dürfte. Wer auch immer es auf den gebürtigen Leipziger und seine Familie abgesehen hatte, musste auch nicht tagelang dessen Gewohnheiten ausspähen. Gemkow blieb auch nach seiner Ernennung zum Justizminister im November 2014 seiner Heimatstadt treu und kehrte fast jeden Abend heim zu seiner Familie. Die Täter konnten sich also ziemlich sicher sein, ihn ausgerechnet dort zu treffen, wo es am schlimmsten ist: an seinem ganz privaten Rückzugsort.