Der Hass von Heidenau, der Anschlag in Salzhemmendorf, die Tragödie von Österreich: Wie verändern uns diese Nachrichten? Woher kommt die Gewalt? Szenen aus einem Land, das sich selbst fremd wird.
Von Dirk Schmaler und Thorsten Fuchs
Die Jüngste war eins. So viel weiß man jetzt. Ein Mädchen, gerade 18 Monate alt, offenbar erstickt in diesem weißen Kühl-Lkw einer Wurstfabrik, irgendwo auf der Fahrt von Ungarn nach Österreich.
71 Menschen, das erklärten die österreichischen Behörden gestern, sind
in diesem Lkw ums Leben gekommen. Die Polizei musste sich also
korrigieren. Bis zu 50 Tote, so hatten es die Ermittler am Tag zuvor
noch berichtet, hätten sie in dem Lkw auf einem Pannenstreifen an der A4
im Bezirk Neusiedl am See gefunden. Er war ihnen aufgefallen, weil
Flüssigkeit aus den Türen drang. Verwesungsflüssigkeit.
Die Zahl der Opfer war zunächst eine Schätzung. Mehr, vermuteten die
Ermittler, konnten unmöglich in den Kühlraum des 7,5-Tonners gepasst
haben. Sie hatten sich geirrt. "Die Kollegen waren die ganze Nacht im
Einsatz und haben Leichen geborgen", sagte der Polizeisprecher Helmut
Marban am Freitag.
Dann kannten sie die genauen Zahlen: 62 männliche Leichen, neun
weibliche. Eine trug einen syrischen Pass bei sich. Unter den Toten
waren vier Kinder, außer dem Mädchen noch drei Jungen. Sie wurden drei,
acht und zehn Jahre alt.
Erinnerungen an Mölln
Zeitgleich zu der Pressekonferenz in Österreich steht am
Freitagvormittag Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil mit
betroffener Miene vor Mikrofonen in Salzhemmendorf. In dem Ort nahe
Hameln haben in der Nacht zuvor zwei Männer und eine Frau einen
Molotow-Cocktail in ein Fenster einer Asylbewerberunterkunft geworfen.
Das Zimmer brannte aus. Eine Mutter und deren drei kleine Kinder, die im
Nebenraum schliefen, konnten sich retten. SPD-Politiker Weil spricht
von "versuchtem Mord".
Es war der traurige Schlusspunkt einer Woche, die Deutschland womöglich
nachhaltig verändern wird. Eine Woche des Leids, auf dem Mittelmeer und
den anderen Routen aus den Krisengebieten dieser Welt nach Europa. Aber
auch eine Woche des Hasses, die wohl viele noch vor wenigen Monaten
nicht für möglich gehalten hätten. Es verging hierzulande kaum ein Tag,
an dem nicht irgendwo im Land Turnhallen oder Unterkünfte brannten oder
angegriffen wurden, in denen Asylbewerber untergebracht werden sollten,
an dem sich nicht irgendwo selbst ernannte "Asylkritiker" zu
Kundgebungen oder Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte zusammengerottet
hätten. Plötzlich scheint es, als habe Deutschland doch nichts gelernt,
seit Anfang der Neunzigerjahre die Asylbewerberheime brannten, in Mölln,
Solingen, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen. Wie auch damals erscheint
der Staat machtlos gegen den Mob, der längst behauptet, für die
schweigende Mehrheit zu stehen.
Die Hetzerin von Heidenau
Sie trägt rote Haare, eine Sonnenbrille, und sie hält ein Schild in der
Hand: "Volksverräterin". So stand sie da, als Angela Merkel am Mittwoch
die Flüchtlingsunterkunft in Heidenau besuchte, jenen Ort, an dem am
vergangenen Wochenende rechtsextreme Chaoten zwei Nächte lang
randalieren und Polizisten angreifen konnten. Die Frau trug nicht nur
ihr Schild. Sie soll die Kanzlerin auch beschimpft haben, "blöde
Schlampe" und Härteres. Sie stand dabei die ganze Zeit vor der Polizei.
Niemand stoppte sie. Am Freitag erklärt die Polizei, sie ermittele jetzt
wegen Beleidigung.
Ob es in Heidenau nun ruhig bleibt? Jedenfalls darf wieder demonstriert
werden. Die Behörden hatten dort zunächst alle Versammlungen für das
Wochenende verboten, "polizeilicher Notstand" hieß es, nicht genug
Beamte. Eine Kapitulation des Rechtsstaats, kritisierten SPD, Linke,
Grüne. Ausgerechnet ein Willkommensfest für die Flüchtlinge sollte
ausfallen. Das Verwaltungsgericht Dresden hob das Demo-Verbot gestern
teilweise auf. Die Kanzlerin kennt jetzt die Verhältnisse in Heidenau.
Der Bund, versprach sie, "wird alles tun, um die sächsische Polizei zu
unterstützen".
Ein Aufstand der Abgehängten?
Wer nach Erklärungen für den Hass sucht, kann sich umhören. Es gibt
unzählige Meinungsäußerungen zur Flüchtlingsproblematik, man findet sie
in Leserbriefen, in Kommentareinträgen im Internet und bei Gesprächen
beim Bäcker. Man kann offen Fremdenfeindliches lesen, vor allem im
Internet. Von Gaskammern ist da die Rede, kaum verklausulierte Aufrufe
zum Anzünden von Asylbewerberheimen findet man auch. Die meisten
allerdings sind zaghafter, sie betonen sogar, dass sie mit Nazis nichts
am Hut haben. Aber.
Offenbar eint viele jener, die vor den Asylbewerberheimen grölend Bier
trinken, die Hasstiraden im Internet veröffentlichen oder gegen
Asylbewerber demonstrieren, vor allem eines: die Angst, dass ihnen die
Flüchtlinge etwas wegnehmen - den Arbeitsplatz, öffentliches Geld,
Wohnraum, auch Sicherheit.
Ist der Aufstand gegen die Flüchtlinge in einem der reichsten Länder der
Welt also eigentlich ein Aufstand der Abgehängten? Oder reicht die
Angst viel weiter, bis in die Mitte der Gesellschaft? Wissenschaftler
und Politiker tun sich schwer, darauf schlüssige Antworten zu geben. Die
Abstiegsängste existieren tatsächlich - trotz aller guten
Wirtschaftszahlen. Denn die Verteilung des Geldes wird immer ungleicher.
Die Reichen werden jedes Jahr reicher, die Armen ärmer. Und die breite
Mittelschicht dazwischen, die gut über die Runden kommt und für
politische Stabilität sorgen könnte, sie wird Jahr für Jahr kleiner. Das
ist kein Grund, Asylbewerberheime anzuzünden. Aber es erklärt
womöglich, warum beides gleichzeitig passiert: Es gibt die Welle der
Gewalt. Aber es gibt auch die Welle der Hilfsbereitschaft. Sie ist sogar
größer als je zuvor - und viel größer als jeder Mob vor einem
Asylbewerberheim. Aber eben auch viel, viel leiser.
Angst vor dem Rechtsterrorismus
In Nauen in Brandenburg hat ein Feuer in der Nacht zu Dienstag eine
Turnhalle zerstört, in der Asylbewerber untergebracht werden sollten.
Die Feuerwehr konnte nichts anderes mehr tun, als die Halle
"kontrolliert abbrennen" zu lassen. In Berlin ist am Mittwoch eine
Turnhalle in der Nähe einer Unterkunft für 900 Flüchtlinge abgebrannt.
In Aue, Sachsen, stand am Freitag Vormittag plötzlich der Dachstuhl
eines Hauses in Flammen, in dem 70 Asylbewerber untergebracht waren.
In Nauen deutet vieles auf einen rechtsextremistischen Anschlag hin,
Landesinnenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) spricht von einer
"erbärmlichen Tat". In Aue war es binnen weniger Tage der dritte Brand.
In Berlin ist unklar, ob jemand das Feuer gelegt hat. Stets gibt es nach
solchen Bränden einen Verdacht. Nicht immer ist er berechtigt. Doch
auch wenn sich herausstellt, dass es für einen Brand eine andere Ursache
gibt als den Wahn von Extremisten, so scheint die Tendenz klar: Die
Behörden befürchten einen neuen Rechtsterrorismus.
Laut "Spiegel" hat das Bundesamt für Verfassungsschutz einen Fragebogen
an die Länder verschickt. Das Ziel: herauszufinden, ob Rechtsextremisten
die Anschläge auf Asylbewerberheime bundesweit koordinieren. Oder, ob
die Gewalt gegen Fremde tatsächlich der Ausdruck eines beängstigenden
Stimmungsumschwungs ist. Es ist gerade einmal neun Jahre her, da stellte
sich Deutschland der Welt als Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft
als weltoffenes, multikulturelles und gastfreundliches Land dar.
Womöglich stellt sich in diesen Tagen heraus, was davon eine geschickte
schwarz-rot-goldene Marketingkampagne war. Und was tatsächlich echt.
Todeskampf im Lastwagen
Die Menschen in dem weißen Lkw haben noch alles versucht. Auf der
Beifahrerseite fanden die Ermittler im Burgenkreis eine meterlange
Ausbeulung. Offenbar wollten die Flüchtlinge im Todeskampf die Wand
durchstoßen. Doch die Schlepper, die sie in eine neue, sichere Heimat
bringen sollten, haben ihre Schläge ignoriert - und den Lkw an der
Autobahn abgestellt. Mindestens 24 Stunden soll er bereits dort
gestanden haben, bevor die Polizei auf ihn aufmerksam wurde.
Drei Männer haben die Ermittler in Ungarn festgenommen. Sie sollen den
Lkw gefahren haben. Zwei Bulgaren, einer von ihnen, offenbar der
Besitzer des Fahrzeugs, libanesischer Herkunft, und einen Ungarn. Die
Köpfe des Schleuserrings sind sie nicht. Bis zu sieben Ebenen, erklären
Experten, umfassten große Schlepperbanden. "Derzeit", erklärt der
burgenländische Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil, seien die
Ermittler bei der "untersten Ebene".