Von Asylantrag bis Zusatzkosten: Zehn Fakten zur Flüchtlingspolitik

Erstveröffentlicht: 
15.08.2015

Die Flüchtlingszahlen steigen stark an, allerorten wird nach Notquartieren gesucht - die LVZ beantwortet zehn wichtige Fragen zum Reizthema Asyl

 

Weshalb steigen die Flüchtlingszahlen in diesem Jahr stark an?

 
Die Ursachen liegen zum einen in der weltweiten Zunahme an Krisen und Bürgerkriegen, zum anderen an der wirtschaftlichen Lage in den Herkunftsländern. Dies spiegelt sich auch in den Asylanträgen in Sachsen wider: Jeder Fünfte stammt von Syrern - die die größte nationale Gruppe unter den Flüchtlingen bilden -, gefolgt von Kosovaren, Albanern, Mazedoniern und Serben. Diese Balkan-Gruppe macht insgesamt etwa 40 bis 45 Prozent aller Asylbewerber aus. Daneben stammen größere Gruppen aus dem Irak, Afghanistan, Libyen, Eritrea sowie der Russischen Föderation. Experten sprechen inzwischen von einer neuen Völkerwanderung: Weltweit sind nach UN-Schätzungen 46 Millionen Menschen auf der Flucht - etwa eine Million Menschen warten allein in Libyen auf eine Mittelmeer-Passage.


Muss Deutschland jeden Flüchtling aufnehmen?

 
Ja - weil dies zu den rechtsstaatlichen Prinzipien gehört und in der Verfassung entsprechend verankert ist. Dabei ist egal, woher ein Flüchtling kommt, es besteht ein Anspruch auf eine menschenwürdige Unterbringung. Im Lauf des Asylverfahrens kristallisieren sich allerdings erhebliche Unterschiede heraus: Während etwa für Menschen aus dem Bürgerkriegsland Syrien ein gestrafftes Verfahren gilt und diese Asylbewerber zu fast 100 Prozent anerkannt werden, liegt die Ablehnungsquote der Balkan-Gruppe bei nahezu 100 Prozent. Das heißt: Diese Asylbewerber werden fast alle wieder in ihre Heimat geschickt. Die Entscheidung liegt beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), was sechs bis sieben Monate dauert. Abschiebelager nur für die Balkan-Gruppe, wie in Bayern und auch in Sachsen diskutiert, gelten als rechtlich kaum haltbar und ethisch nicht vertretbar. Insgesamt gilt: Bundesweit werden zwei von drei Asylanträgen abgelehnt, wobei der Balkan und die Russische Föderation den größten Anteil ausmachen - die meisten anderen Anträge sind also berechtigt.


Gibt es keine Möglichkeit, die Asyl­verfahren zu beschleunigen?

 
Beschleunigte Verfahren gelten bereits für Syrer. Ab September ist geplant, Verfahren aus der Balkan-Gruppe zu vereinfachen, sodass nach spätestens einem Monat eine Entscheidung vorliegt. Momentan wird mit sächsischer Unterstützung an einer weiteren personellen Aufstockung für das BAMF gearbeitet, damit die Anträge schneller bearbeitet werden können.


Weshalb scheint Sachsen von der Entwicklung überrascht zu werden?

 
Zunächst einmal: Nicht nur in Sachsen, sondern im gesamten Bundesgebiet nehmen die Flüchtlingszahlen stark zu und stellen die Krisenstäbe vor immense Probleme. So wird beispielsweise in Thüringen nach einer vierten Erstaufnahmeunterkunft gesucht und soll ein Bordell zum Asylheim umgebaut werden, in Berlin campieren Asylbewerber vor Meldebehörden in Parks. Sachsen hatte sich lange Zeit auf die BAMF-Prognosen verlassen - und wurde von der Winter-Flüchtlingswelle quasi überrollt. Weil die Prognosen der Realität hinterherhinken, ist der Freistaat zu eigenen Schätzungen übergegangen. Das Problem ist: Allein im Juli und August mussten fast 10000 neue Flüchtlinge untergebracht werden, so viele wie im ersten Halbjahr 2015 (erstes Halbjahr 2014: 3800). Mit einem Rückgang ist aufgrund der weltpolitischen und wirtschaftlichen Situation in nächster Zeit kaum zu rechnen. Das Innenministerium, das letztlich über Erstaufnahmeeinrichtungen entscheidet, und der Staatsbetrieb für Immobilien- und Baumanagement suchen deshalb händeringend nach Unterkünften - und finden kaum geeignete Gebäude. Hinzu kommen interne Kommunikationsdefizite und eine nicht selten mangelhafte Informationspolitik.


Weshalb ist es so schwer, Asyl-Unterkünfte zu finden?


Wichtig ist zunächst die Unterscheidung in Erstaufnahmeeinrichtung, für die das Bundesland zuständig ist, und Asylbewerberheim beziehungsweise dezentrale Unterbringung, für die die Städte und Kreise verantwortlich sind. Deshalb konnte der Freistaat Sachsen beispielsweise die Leipziger Grube-Halle als Landesimmobilie in Beschlag nehmen; die Stadt hat dabei kein Einspruchsrecht. Für eine Erstaufnahmeeinrichtung gilt: Damit das BAMF eine Außenstelle - mit verwaltungstechnischer, medizinischer und sozialer Betreuung - einrichtet, sind 500 Plätze nötig. Zudem müssen Bau- und Sicherheitsvorschriften erfüllt werden. Außerdem muss eine Verkehrsanbindung gegeben sein, damit sich Asylbewerber möglichst frei bewegen können.


Warum fehlen so viele Plätze?


In Sachsen gibt es zwei dauerhafte Erstaufnahmeunterkünfte in Chemnitz und in Leipzig (Friederikenstraße; hinzu kommt die geplante Unterkunft in der Max-Liebermann-Straße). Dresden soll so schnell wie möglich folgen. Aktuell wird auch auf dem Land nach Interimsquartieren gesucht, da die Flüchtlingszahlen alle Erwartungen übersteigen.


Es stehen viele Schulen, Baumärkte oder Fabrikhallen leer - weshalb werden diese nicht belegt?


Allein aufgrund der Größe fallen leer stehende Schulen für die derzeit akute Erstaufnahme aus, sondern kommen nur für die Kommunen infrage. So stehen in Leipzig momentan zehn Schulen leer; zwei Häuser (Scharnhorst- und Tarostraße) sollen bereits ab September als Flüchtlingsunterkunft genutzt werden. Doch die Stadt hat auch einen großen Schulbedarf. Fabrik- oder Messehallen wären für die Erstaufnahme möglich, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt werden und eine Umrüstung ohne größeren Aufwand - aufgrund der aktuellen Lage - möglich ist. Auch Wohncontainer wären eine Möglichkeit, doch europaweit ist der Markt wie leer gefegt.


Weshalb springt der Bund nicht ein - zum Beispiel mit verwaisten Kasernen?


In Schneeberg (Erzgebirge) ist dies der Fall, im Wesentlichen hält der Bund sich allerdings zurück. Bislang wurde dem Freistaat Sachsen offenbar nur ein einziges Objekt angeboten, das ernsthaft infrage gekommen wäre: Eine noch belegte Kaserne. In der Diskussion ist auch immer wieder das ehemalige Bundeswehr-Krankenhaus in Leipzig-Wiederitzsch, hier waren die Verhandlungen mit Privaten gescheitert und sollen auch nicht aufgewärmt werden.


Was passiert mit den Asylbewerbern, wenn sie die Notquartiere und Erstaufnahmeeinrichtungen verlassen?
Nach spätestens drei Monaten müssen Asylbewerber die Erstaufnahme verlassen - und werden laut einem Verteilungsschlüssel in Städten und Kreisen untergebracht. Leipzig muss 13,2 Prozent aller in Sachsen ankommenden Flüchtlinge aufnehmen (Prognose für 2015: 5500). Die Folge ist: Die meisten der Flüchtlinge, für die gerade ein Notquartier in der Erstaufnahme gesucht wurde und die nicht sofort zurückkehren, werden im Herbst in den Kommunen untergebracht - die Welle setzt sich also fort.


Mit welchen Kosten sind die steigenden Flüchtlingszahlen verbunden?


In Sachsen werden sich in diesem Jahr die Kosten für die Erstaufnahme auf etwa 48 Millionen Euro verdoppeln. Hinzu kommt die Pauschale für Kommunen: Gegenwärtig ist eine Aufstockung um zehn Millionen Euro auf 131 Millionen Euro avisiert. Da die meisten Flüchtlinge aber erst noch von der Erstaufnahme in die Städte und Kreise verteilt werden, ist von einer weiteren Erhöhung auszugehen. Andreas Debski