Dortmund. Vor 15 Jahren erschoss der psychisch kranke Neonazi Michael Berger drei Polizisten - angeblich ohne politisches Motiv. Indizien lassen daran zweifeln.
Am 14. Juni 2000 starben in Dortmund und Waltrop drei Polizisten. Sie wurden erschossen, der Täter beging Selbstmord. Die Tat ordnete das NRW-Innenministerium sinngemäß Ende 2011 wie folgt ein: Es habe sie gegeben, weil der Täter ohne Führerschein unterwegs war und mehrere Waffen im Auto und in seiner Wohnung hatte und entdeckt worden war. Anhaltspunkte für eine politisch motivierte Tat lägen nicht vor.
Berger, Michael, geboren am 16. Januar 1969, stirbt im Alter von 31 Jahren am 14. Juni 2000 durch Selbstmord. Wie aus dem Nichts heraus, so scheint es, tötet er vor seinem Suizid drei Polizisten durch Kopfschüsse und verletzt eine weitere Polizistin schwer.
Die Beamten hatten keine Chance, die Attacken kamen vollkommen unerwartet: Berger fällt gegen 9.40 Uhr zwei Streifenbeamten auf, da er in seinem BMW 325i, anthrazitfarben, Kennzeichen DO-MB 325, unangeschnallt fährt. Er ist ohne Führerschein unterwegs, den hat er bereits verloren.
Die beiden Polizisten fahren ihm - ohne Blaulicht - hinterher. Berger hält am Unteren Gaffweg an, die Polizisten halten an, Berger schießt mit einer ungarischen Pistole, Kaliber 9mm. Zwei Treffer in die Brust, zwei in den Kopf, der erste Polizeibeamte, Vater von zwei Kindern, ist sofort tot. Seine Kollegin kann in Deckung gehen, wird am Bein getroffen.
Eine Großfahndung geht raus, gesucht wird ein Mann mit dunklen Haaren. Um 10.17 Uhr wird sein Wagen in Lünen gesehen, das wird per Funk auch kommuniziert. Im Dortmunder Funknetz "Union", zu dem auch Lünen gehört. Zwanzig Kilometer entfernt, in Waltrop, beobachten zwei Polizisten aus einem Streifenwagen heraus an einer Kreuzung den Verkehr. Sie wissen, dass eine Ringfahndung ausgelöst ist, ihr Streifenwagen gehört zum "Herta-Funknetz" des Polizeipräsidiums Recklinghausen.
Sie wissen nicht, dass Berger in ihrer Nähe ist. Der hält gegen 10.30 Uhr an der Kreuzung an, obwohl die Ampel für ihn grün zeigt, feuert drei Schüsse ab, beide Polizisten werden in den Kopf getroffen und sterben. Berger fährt weiter. Später wird sein Wagen in Olfen-Vinnum entdeckt. Berger in ihm, tot, ein Einschussloch in der rechten Schläfe.
Schweigemarsch von 8000 Polizisten
Die
Gewerkschaft der Polizei fordert kurz darauf schusssichere Westen für
alle Beamten, zwei Jahre später werden sie kommen. Sicherlich
sinnvoll, doch den getöteten Beamten hätten sie nicht geholfen. An
den Orten, an denen die Polizisten starben, werden Blumen abgelegt.
8000 Polizisten werden fünf Tage später in einem Schweigemarsch
durch die Dortmunder Innenstadt laufen, die Anteilnahme in der
Bevölkerung ist riesig.
Das Tatmotiv, auf das sich schnell geeinigt wird und das bis heute Bestand hat: Der Mann war krank, allein, depressiv, rechtsradikal sowie Waffen- und Autonarr. Ein durchgeknallter Amokläufer, der Angst davor hat, in seinem Wagen ohne Führerschein erwischt zu werden und darauf reagiert - was soll man da machen?
Das Magazin Focus schreibt dann auch, dass der Fall Berger beispielhaft zeige, wie ein Psychopath zum Killer werden kann. Sein ganzes Leben sei "eine einzige Vorbereitung auf die erlösende Tat: Von der Nullnummer zum Terminator."
Der Täter ist tot. Das Motiv scheint bekannt. Die Gefahr gebannt.
Berger schon drei Mal ohne Führerschein erwischt
Ist
es so einfach? Berger war zum Zeitpunkt der Tat laut
Bundeszentralregisterauszug bereits dreimal wegen Fahrens ohne
Führerschein verurteilt worden. 1995, 1999 und zuletzt zwei Monate
vor der Tat im April 2000 vor dem Amtsgericht Lünen. Er kannte, so
viel ist sicher, die Situation, ohne Führerschein erwischt zu
werden.
Einen Tag nach der Tat wird gegen 5 Uhr morgens an einer Außenwand der Polizeiwache Hiltrup in Münster ein 3,80 Meter langer und bis zu 80 Zentimeter hoher Schriftzug entdeckt. "3 weniger" steht da, eine eingeleitete Nahbereichsfahndung verläuft laut Polizeibericht negativ. Drei Tage nach der Tat wird ein weiterer Schriftzug entdeckt.
An der Trauerstätte in Dortmund am Unteren Gaffweg. "Scheiß Bullen! Krepieren sollen sie alle! Elendig!" steht da, Holzkreuze, Kerzen und Blumen sind umgeworfen. Vor der Wohnung Bergers am Körner Hellweg finden sich Blumen. Man muss, um das zu tun, den Wohnort kennen. Und eine Beziehung zu dem Täter haben. In Olfen, wo er starb, wird eine größere Gruppe Skinheads gesehen, auch dort werden Blumen abgelegt.
Springerstiefel
bei der Arbeit verboten
Rechtsradikal
ist Berger schon lange vor diesem sonnigen Junitag im Jahr 2000: Nach
der mittleren Reife macht er Mitte bis Ende der 80er-Jahre eine
Ausbildung zum Fotokaufmann in Dortmund. Ein Arbeitskollege aus der
Zeit sagt unserer Redaktion, dass Berger zu Beginn der Ausbildung mit
schwarzen Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln zur Arbeit
kommt. Mehrere Monate läuft er so herum, bis im Laden auffällt,
dass das ein Symbol der Rechtsradikalen ist. Da er auch Kundenkontakt
hat, werden ihm die Stiefel verboten.
Bei einer Blockschulung in Norddeutschland soll sich Berger mit drei weiteren Auszubildenden ein Zimmer teilen. "Wir waren noch nicht ganz im Raum, da stieg er auf den Schrank und begann, eine Nazifahne aufzuhängen." Die anderen Auszubildenden, sagt der, der dabei war, protestieren, sie wollen nicht, dass die Fahne auf sie zurückfällt. Er hängt sie wieder ab.
An einem Abend, so erinnert sich der Arbeitskollege weiter, lädt Berger in sein Elternhaus in Selm-Bork ein, er wohnt damals dort unter dem Dach. Man habe ein paar Bier getrunken, dann zieht Berger einen Revolver hervor und steckt eine Patrone in die Trommel. Er will Russisch-Roulette spielen.
Nur eine Patrone kommt dabei in die Trommel, sie wird gedreht, man hält sich die Waffe an den Kopf und drückt ab. Das Spiel findet nicht statt, die Runde löst sich schnell auf. Woher er die Waffe hatte? "Keine Ahnung, er hatte damals Kontakte zu ganz dubiosen Quellen." Da habe man besser nicht nachgefragt.
Die "dubiosen Quellen" sollten in den kommenden Jahren nicht versiegen: Im Wagen finden sich neben der Tatwaffe und dazugehöriger Munition unter anderem ein weiterer scharfer Revolver und eine Schreckschusswaffe. In Bergers Wohnung finden sich - auch unter anderem - drei scharfe Handfeuerwaffen, ein Kleinkalibergewehr mit Zielfernrohr sowie eine Splitterhandgranate.
Im
Elternhaus in Selm-Bork entdecken Ermittler etwas später in einem
Dachschrägenverschlag eine schwarze Reisetasche. Darin, eingewickelt
in einem Laken ein Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow, eine AK47. Der
Vater Bergers sagt, er habe diese Waffe noch nie gesehen.
Woher stammen die Waffen?
Woher dieses Waffenarsenal kam, speziell das Sturmgewehr, ist eine der ganz wichtigen Fragen. Eine mögliche Antwort darauf gibt ein gewisser Sebastian Seemann bei einer Zeugenvernehmung zwei Tage nach der Tat: Berger habe die AK 47 für 500 Mark von einem polnischen LKW-Fahrer gekauft. Habe er ihm erzählt.
Es ist fraglich, ob das stimmt, Sebastian Seemann ist kein ganz gewöhnlicher Zeuge: Er stammt aus Lünen, war ursprünglich Punk, seit Mitte der 90er-Jahre ist er rechtsradikal, handelt dann irgendwann selber mit Waffen und Drogen. Darüber hinaus organisiert er rechtsradikale Konzerte, hat exzellente Verbindungen in die belgische Neonaziszene , über die er selbst an Waffen kommt.
Seemann wird spätestens in den Jahren nach dem Tod Bergers eine der zentralen Neonazifiguren im Ruhrgebiet werden, vielleicht ist er es schon damals. Er betreibt eine Kneipe in Lünen und wird 2004 Spitzel des Verfassungsschutzes, obwohl er selbst schwer kriminell ist.
Und alles andere als ein Mitläufer: Er organisiert Konzerte der rechtsradikalen Band "Oidoxie" um den Sänger Marco Gottschalk. Ob das damals schon bekannt war, ist unklar, aber das ist der erste Hinweis auf eine Verbindung Bergers zu einer terroristischen Vereinigung namens Combat 18.
Dortmunder waren bei Neonazi-Kampfgruppe Combat 18 aktiv
Combat 18 (C18), übersetzt Kampfgruppe 18, die Ziffern stehen für den Platz der Buchstaben A und H im Alphabet, AH für Adolf Hitler. C18 ist der militante Arm des ursprünglich aus England stammenden rechtsradikalen Netzwerkes Blood & Honour (Blut & Ehre). Zu seiner Hochphase gegen 1998 soll die Gruppierung etwa 400 Mitglieder bundesweit gehabt haben.
Einerseits versorgte B&H die rechtsradikale Szene mit Musik und Konzerten, andererseits verstanden sich die Mitglieder des C18-Arms als "politische Soldaten". Ihre Kampf-Ideologie fußte auf der Idee des "führerlosen Widerstandes": Einzeltäter oder kleine Gruppen sollen unabhängig von größeren Strukturen agieren.
Der theoretische Überbau dieser Gedankenwelt findet sich in verschiedenen Schriften, etwa in "Der Weg vorwärts" des Norwegers Erik Blücher. Am bekanntesten sind die sogenannten "Turner-Tagebücher" des Amerikaners William L. Pierce von 1978. In den Turner-Tagebüchern, die seit den 90er-Jahren auch in der deutschen Szene kursierten, ging es um eine geheime Organisation, die den Kampf gegen das "System" und "Überfremdung" Amerikas führt.
Das Buch ist fiktiv und diente Vielen als Quelle: So sagte Timothy McVeigh, der 1995 in Oklahoma City 168 Menschen bei einem Bombenanschlag tötete, die Tagebücher hätten ihn zu seiner Tat inspiriert. Der "Weg vorwärts" wird zum Jahresanfang 2000 veröffentlicht und dann sehr schnell ins Deutsche übersetzt.
Blücher selber ist Führungskader beim skandinavischen Blood&Honour-Ableger, sein Buch gilt als "Manifest des bewaffneten Kampfes", sein Buchende wird zitiert mit: "Die Zeit des Geredes ist wirklich vorbei. Wir haben ein Stadium erreicht, in der jegliche Form der Aktion der Inaktivität vorzuziehen ist. (…) Lasst uns unsere Schreibtische verlassen und das multikulti, multikriminelle Inferno von ZOG zerstören." ZOG steht für eine "zionistisch okkupierte Regierung".
Die Blood&Honour-Bewegung in Deutschland kannte dieses Buch sehr gut, in ihr verwurzelt waren damals auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die später als terroristische Vereinigung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bekannt werden sollten. Zunächst gelten sie als allein operierendes Trio, inzwischen ist klar: Sie hatten Unterstützer. Die rekrutierten sich aus dem B&H-Netzwerk.
Auch in Dortmund bildet sich um die Band Oidoxie und damit um Sebastian Seemann eine C18-Gruppe. Jener Seemann, der zwei Tage nach den tödlichen Schüssen von Berger in Dortmund und Waltrop als Zeuge befragt wird.
Schützeneck
in der Nordstadt als Anlaufpunkt
Berger habe er im Schützeneck kennengelernt, sagt er aus. Im November oder Dezember 1999 habe der ihn angesprochen. Wie Berger ins Schützeneck gekommen sei, wisse er nicht. Das Lokal ist, in der Nordstadt gelegen, im Herbst 1999 der zentrale Anlaufpunkt nicht nur der Dortmunder Rechtsradikalen. Siegfried Borchardt alias SS-Siggi, Galionsfigur der Dortmunder Rechten über Jahrzehnte hinweg, hält hier Hof.
Berger sei häufiger dort gewesen, habe sich aber immer nur mit ihm, also Seemann, unterhalten. Sie hätten sich dann auch verabredet, seien im Januar in einen Wald an der Lippe gefahren und hätten dort Schießübungen abgehalten. Die Waffen Bergers habe er dort zum ersten Mal gesehen, woher sie gekommen seien, habe Berger nicht gesagt.
Bei Unterhaltungen habe Berger auch nichts über eine mögliche rechte Gesinnung gesagt. Zwar habe Seemann eine Hakenkreuzfahne in der Wohnung gesehen, doch die habe Berger wohl nur gehabt, weil das im Moment verboten war. "Der fand alles geil, was verboten ist." Ein absoluter Nationalist sei Berger nicht gewesen.
Das ist mit Sicherheit falsch.
Spuren
verlieren sich in Österreich
Die
Polizei versucht nach der Tat zu ermitteln, von wo die Waffen
stammen. Die Spurensuche ist schwierig, mindestens eine Waffenfirma
hat den Besitzer gewechselt. Mehrere Spuren führen nach Österreich,
dort verlieren sie sich dann aber auch. Auch das Bundeskriminalamt
ist in die sogenannte "Verkaufswegefeststellung" der Waffen
involviert. Was das ergibt, ist unbekannt.
Es sind jedoch nicht nur Waffen, die im Nachlass Bergers gefunden werden: Über dem Handschuhfach im BMW ist ein Metallschild aufgeklebt, "Meine Ehre heißt Treue" steht darauf, das war der Wahlspruch der SS im NS-Regime. Im Portemonnaie von Berger finden sich unter anderem ein Hitler-Bild, ein Mitgliedsausweis der NPD, je eine Visitenkarte von Sebastian Seemann und des mittlerweile verbotenen "Nationalen Widerstand Dortmund" (NWDO).
Weiter wird der Staatsschutz in der Wohnung des Verstorbenen Kriegsorden, eine Gürtelschnalle mit Hakenkreuz, eine entsprechende Fahne und diverse Hitlerbilder finden. Dazu zwei Polaroid-Fotos einer achtköpfigen Personengruppe vor einer Hakenkreuzfahne, Berger unter ihnen, teilweise zeigen sie den Hitlergruß. Sowie je ein Mitgliedsausweis von DVU und Republikanern.
Ziemlich viele Neonazi-Devotionalien für einen, der angeblich keine Kontakte in die Szene über Seemann hinaus hatte. In den Ermittlungsakten heißt es, dass nach "bisherigen Ermittlungen keinerlei Hinweise dahingehend vorhanden sind, dass die Taten vom gestrigen Tag in irgendeinem Zusammenhang mit der politischen Überzeugung des Berger stehen".
Staatsanwalt
verweist auf Düsseldorf
Ähnlich
äußert sich damals der ermittelnde Staatsanwalt Heiko Artkämper:
"Es mag eine gewisse Affinität geben, die nach dem jetzigen
Stand der Ermittlungen allerdings nicht tatursächlich war."
Weiter zitiert ihn der Berliner Kurier zwei Tage nach der Tat mit den
Worten, dass nach dem Selbstmord des Täters das "letztendlich
ausschlaggebende Motiv" im Verborgenen bleiben könne.
Wenn man Artkämper heute fragt, was aus den Ermittlungen von damals geworden ist, verweist er nach Düsseldorf. Die Akten der Staatsanwaltschaft Dortmund zu dem Fall lägen beim Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) des Landtags in Düsseldorf, seien daher nicht zugänglich, weswegen er keine Auskünfte zu angesprochenen Fragen geben könne.
Im November 2014 hatte der Landtag NRW als viertes Bundesland die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum NSU-Terror beschlossen. Er soll mögliches Fehlverhalten der Sicherheits- und Justizbehörden im Umgang mit dem NSU-Terror und seiner Nichtentdeckung untersuchen.
Dazu gehören die Aktivitäten des NSU im Bundesland sowie mögliche Unterstützer aus der rechtsradikalen Szene, Sprengstoffanschläge 2001 und 2004 in Köln sowie der Mord an dem türkisch-stämmigen Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in der Mallinckrodtstraße und weitere in NRW begangene Straftaten mit einem mutmaßlich politisch rechts-motivierten Hintergrund. Darunter auch die Taten Bergers. Sie sind jedoch kein Schwerpunkt des Ausschusses und stehen so ziemlich an letzter Stelle des Ausschuss-Zeitplans.
Vorsitzende
des NSU-Untersuchungsausschusses gab Amt ab
Ende 1999 hat Berger Stress mit seinem Arbeitgeber, einem Autohaus. Er sagt Arbeitskollegen, dass er keinen Bock mehr habe und am nächsten Tag krank feiern werde. Als er das tatsächlich tut, bekommt er die fristlose Kündigung. Er sucht sich eine Anwältin, sie schafft es, die fristlose Kündigung in eine fristgerechte umzuwandeln. Der Name der Anwältin: Nadja Warmer. Heute, 15 Jahre später, heißt sie Lüders, ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, bis März 2015 auch Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses.
Dann teilte sie selbst mit, dass sie Berger damals vertreten habe , sie keinerlei Anzeichen einer rechtsradikalen Gesinnung erkannt habe, er sei für sie einer ihrer ersten Mandanten gewesen. "Unsere Kanzlei hatte er wegen einer Anzeige in einem Anzeigenblatt aufgesucht." Die Visitenkarte von Lüders steckt noch im Portemonnaie, als Berger in Olfen gefunden wird. Lüders gibt den Vorsitz ab, sie will, sagt sie, keine Diskussion um den Ausschussvorsitz.
Im Juli 2000 tauchen zunächst in Dortmund, dann auch auf Demos in anderen NRW-Städten sowohl Aufkleber als auch Papierschnipsel auf. "Berger war ein Freund von uns - 3:1 für Deutschland" steht darauf. Die "3" für drei tote Polizisten, die "1" für einen toten Amokläufer.
Ist das der Versuch, die Tat eines Einzelnen für sich zu instrumentalisieren? Oder soll damit der sich verfestigenden öffentlichen Meinung entgegengewirkt werden, dass Berger ein psychisch kranker Außenseiter war, der von der Polizei in die Enge getrieben worden war und daher ausklinkte?
Wenn man das Prinzip des "führerlosen Widerstandes", wie es der Combat-18-Gruppierung vorschwebte, nutzen will, dann soll, so die Theorie, eine Tat für sich sprechen und anderen Gruppen signalisieren, ähnliches zu tun. Wenn dann aber der Täter als depressiver und arbeitsloser Amokläufer dasteht - wäre das ein vernünftiges Signal gewesen?
Polizistenmörder Berger hatte Kontakt zu Neonazis aus dem Sauerland
Kurz nach dem Auftauchen der Schnipsel und Aufkleber kommt es zu einer Hausdurchsuchung bei dem aus dem Sauerland nach Dortmund gezogenen Michael Krick. Hier werden entsprechende "Berger war ein Freund von uns"-Zettel gefunden. Krick gilt als Freund Bergers und stammt aus dem Umfeld der "Sauerländischen Aktionsfront" (SAF). Die SAF galt als hochaktive, sehr gut vernetzte und aggressive Neonazi-Gruppe.
Als Ende 1997 zwei der drei Anführer dieser Gruppe bei einem Autobahnunfall ums Leben kommen, trifft sich bei der Beerdigung am 27. November 1997 auf dem Winterberger Stadtfriedhof die Spitze der damaligen Neonaziszene: Vertreter des "Thüringer Heimatschutzes", der Neonazi-Liedermacher Frank Rennicke, der aus Hamburg stammende und damals noch solvente Neonazi Christian Worch sowie Siegfried Borchardt.
An seiner Seite auf dem Friedhof, so sagen es Aussteiger heute: Michael Berger, er sei als rechte Hand Borchardts vorgestellt worden. Die Rechtsradikalen in Dortmund sind vernetzt mit der ganzen Szene in Deutschland, zumindest das lässt sich bereits auf dieser Beerdigung feststellen.
Hochkriminelles Millieu - V-Mann im Zeugenschutz
Borchardt, Seemann, Krick: Es ist ein hochkriminelles Milieu, in dem sich Berger bewegt. Waffen, Drogen, falsche Papiere, dazu der Hass auf das System. Das Ideal vom Kampf in kleinen Zellen oder als Einzeltäter. Und dann soll Berger wegen eines eventuell endgültig drohenden Verlustes seines Führscheins oder einer geringen Haftstrafe so durchdrehen, dass er drei Menschen und sich selber tötet und eine weitere Frau verletzt?
Seemann wird später, 2007, als V-Mann des Verfassungsschutzes enttarnt. Er fliegt auf, als es zu einem Prozess gegen seinen Freund Robin Schmiemann, ebenfalls Neonazi und im C18-Netzwerk, kommt. Schmiemann hatte sich, so heißt es, bei einem größeren Drogendeal die Drogen abnehmen lassen, aber kein Geld bekommen. Gesichert ist, dass er Anfang 2006 einen Supermarkt in Brechten überfällt, dabei einen Tunesier niederschießt und anschließend festgenommen wird.
Er wird von einem Szene-Anwalt verteidigt, der entdeckt in entsprechenden Gerichts-Akten den Klarnamen Seemanns als V-Mann des Verfassungsschutzes. Seemann lebt heute, mit mehr als zwanzig Vorstrafen, in einem Zeugenschutzprogramm. Schmiemann wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, sitzt in Haft und bekommt dort 2013 einen 26 Seiten langen Brief von Beate Zschäpe, der einzigen Überlebenden des NSU. Angeblich kennen sie sich da erst seit zwei Monaten.
Die Dortmunder C18-Zelle um Gottschalk und Seemann löst sich Anfang 2006 plötzlich und ohne ersichtlichen Grund auf, obwohl alle Beteiligten nach wie vor rechtsradikal sind. Im April 2006 stirbt Mehmet Kubasik in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße durch den NSU. Der Kiosk, in dem der Familienvater hingerichtet wird, liegt nur wenige Meter von dem ehemaligen Rechten-Treff Schützeneck. Das Ordnungsamt hatte das Schützeneck im Jahr 2000 geschlossen, dem Wirt war Unzuverlässigkeit vorgeworfen worden.
Erste große Nazidemonstration in Dortmund
Christian
Worch wird es sein, der für den Oktober 2000 eine Demonstration in
Dortmund anmeldet, ihr Motto lautet in Kurzform "Gegen die
Hysterie der Medien". Dortmund hat damit seine erste wirklich
große Nazidemonstration, viele werden folgen und den Ruf Dortmunds
als Hochburg der rechten Szene im Westen Deutschlands weiter
festigen. Auch wenn die Rolle Worchs allmählich kleiner werden wird.
Unter Siegfried Borchardt, einer Art strengem Vater der hiesigen Szene, wächst zu der Zeit eine neue Generation von Neonazis heran: Autonome Nationalisten, die nicht mehr, wie Berger damals, an weißen Schnürsenkeln in schwarzen Stiefeln zu erkennen sind.
Als im Januar 2015 ein ARD-Tatort des Dortmunder Ermittlerteams, der sich thematisch mit der rechtsradikalen Szene der Stadt beschäftigt, ausgestrahlt wird, taucht ein Foto in den sozialen Netzwerken im Internet auf: Fünf Vermummte sitzen bei Dosenbier und Chips auf einer Couch, auf dem Tisch stehen Reizgasflaschen, sie halten Baseballschläger, Teleskopschläger und andere Utensilien in den Händen. An der Wand hängt eine schwarz-weiß-rote Fahne, darüber ein BVB-Schal. "Danke Michael... Du bist super!" steht darauf. Über dem Schal ein Foto des amtierenden Polizeipräsidenten Gregor Lange.
Die neue Generation im Dortmunder Rat
Vertreter der mittlerweile gar nicht mehr so neuen Generation der Dortmunder Nazispitze sind Michael Brück und Dennis Giemsch. Mit der Partei "Die Rechte" und dem Zugpferd Borchardt gelang ihnen der Einzug in den Rat der Stadt Dortmund.
Als Borchardt Ratsherr geworden war, ließ er sein Mandat schnell wieder ruhen, für ihn rückte Dennis Giemsch nach . Der ließ sein Amt nach einigen kalkulierten Aufregern wie der sogenannten Judenfrage im Rat ebenfalls ruhen und gab es weiter an Michael Brück . Giemsch begründet diesen Schritt mit einem eigenem Blogbeitrag im Internet. Er tue das, schreibt er, "weil wir politische Soldaten sind!".
Es ist die gleiche Wortwahl der alten, angeblich aufgelösten C 18-Struktur. Blood&Honour war in Ostdeutschland sehr stark, die Szene kennt sich, besucht damals gemeinsam Konzerte.
Einer der zentralen Gründungsfiguren von B&H war dort Carsten Szczepanski. Er ist Anfang der 90er-Jahre wegen eines brutalen Gewaltaktes zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden, dient sich noch in der U-Haft dem brandenburgischen Verfassungsschutz an und ist über viele Jahre eine Spitzenquelle namens "Piato" oder "Piatto".
Er fliegt im Juni 2000 auf, Ende Juni beendet der Brandenburger Verfassungsschutz die Zusammenarbeit mit ihm auch offiziell. So steht es im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Entsprechende Befürchtungen, dass Szczepanski V-Mann sei, kursieren in der gut vernetzten Szene aber schon mehrere Tage vor der Abschaltung. Die Zeit, in der Berger erst drei Polizisten und dann sich selbst erschoss.
Die Kommunikationsstrukturen der Rechtsradikalen waren damals und sind heute noch gut. Was, wenn Berger bereits von der Abschaltung Szczepanskis und dessen V-Mann-Tätigkeit wusste, dann in eine Polizeikontrolle gerät und annimmt, es gehe um mehr als einen Führerschein?
War Berger V-Mann des Verfassungsschutzes?
Ein Gerücht um Berger hat sich über die Jahre gehalten. Es hieß, er sei selber V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes gewesen. Im Februar 2007 stellte der damalige Dortmunder CDU-Bundestagsabgeordnete Erich G. Fritz daher eine schriftliche Anfrage: Fritz wollte wissen, ob Berger V-Mann gewesen sei. Und ob es stimme, dass Berger gegenüber mehreren Personen erklärt haben solle, er hielte den Druck nicht mehr aus, einerseits rechtsextrem zu sein, andererseits als V-Mann zu arbeiten.
Fritz sagt heute, dass das ein hartnäckiges Gerücht gewesen sei, er habe die Anfrage gestellt, damit etwas passiere, sich vielleicht jemand meldet. Es passierte nichts und die Antwort auf die Anfrage war vorher klar: "Zu Fragen, die den Bereich der operativen Nachrichtenbeschaffung betreffen, erteilt die Bundesregierung Auskunft nur an das zuständige Parlamentarische Kontrollgremium."
Am Sonntag vor 15 Jahren exekutierte Michael Berger, dessen leibliche Mutter sich umbrachte, als er sechs Monate alt war, drei Polizeibeamte, verletzte eine weitere schwer und erschoss sich dann selbst. Der Fall wirft nach wie vor mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Die Indizien, die man hier sammeln kann, legen den Schluss nahe, dass Berger nicht der einzige war, der bis an die Zähne bewaffnet war. Und bereit zu töten.
Radikalisiert in einer Szene, die von V-Leuten, die die Szene noch anheizten, durchsetzt war. Zumindest für Berger wie auch für die Terroristen des NSU kann man das als gesichert betrachten. In Dortmund gab es ein organisiertes Netzwerk von rechten Straftätern mit besten nationalen und internationalen Kontakten, sie nannten sich Freunde - es spricht so gut wie nichts dafür, dass das heute anders ist.
Die getöteten Polizisten waren zum Zeitpunkt ihres Todes alle Mitte 30 und hinterließen mehrere Partner und Kinder - eines war noch nicht geboren, als sein Vater starb.
Tobias Großekemper