Kurden und IS auf einen Schlag?

Erstveröffentlicht: 
27.07.2015

Die türkische Regierung hat sowohl den Kurden der PKK als auch dem „Islamischen Staat“ (IS) den Krieg erklärt.

Obwohl beide Gruppierungen sowohl in Ankara wie auch in Washington als "Terroristen" gelten, sollte man nicht übersehen, dass es sich um sehr unterschiedliche Kräfte handelt.

 

Die PKK steht seit 1984 "im Krieg" mit der Türkei. Sie hat diesen Krieg, der zum Tod von gegen 40‘000 Menschen und zur Zerstörung von über 3‘000 kurdischen Dörfern geführt haben soll, weitgehend verloren - aber nicht völlig.

Ein Wendepunkt kam, als 1999 der Gründer der PKK, Abdullah Öcalan, der sich in Syrien aufhielt, auf Druck, den damals die türkische Armee auf Syrien ausübte, Syrien verlassen musste. Nach einer Odyssee durch viele Länder und Hauptstädte wurde er schliesslich in Nairobi von der CIA aufgegriffen und den türkischen Geheimdiensten übergeben.

 

PKK kämpft von jenseits der Grenze

 

Öcalan war und bleibt heute bei seinen Anhängern ein Idol. Der Personenkult, der um seine Person inszeniert wird, erinnert an die Zeiten Mao Tse Tungs. Öcalan wurde in der Türkei zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet. Die PKK-Kämpfer zogen sich damals aus der Türkei zurück in die gebirgigen Grenzgebiete jenseits der irakischen Grenze. Dort, im Kandil-Gebirge, richteten sie ein Hauptquartier ein. Von dort aus griffen sie immer wieder türkisches Gebiet an und überfielen türkische Soldaten. 

 

Die türkische Armee bombardierte die Kandil-Berge über Jahre hinweg. Mehrmals drangen türkische Soldaten auch auf irakisches Gebiet vor. Doch der Armee gelang es nicht, die kurdischen Kämpfer vollständig zu besiegen. Die PKK rief mehrmals einseitige Waffenstillstände aus. Doch diese brachen zusammen, weil Versuche, die kurdischen Anliegen auf politischem Weg über kurdische Parteien zu fördern, fehlschlugen. Mehrere solcher Parteien wurden nacheinander verboten und aufgelöst.

 

Autonomie statt Unabhängigket

 

Die Kurden fordern heute Autonomie – vor allem auch kulturelle - für die kurdischen Landesteile in der Türkei. Die frühere Forderung nach voller Unabhängigkeit wurde aufgegeben.

 

Unter dem früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan verhandelten die türkischen Geheimdienste mit dem gefangenen Öcalan. Sie bewirkten nach langen Gesprächen, dass Öcalan aus dem Gefängnis heraus der PKK empfahl oder befahl, den Widerstand aufzugeben und politische Mittel einzusetzen.

 

 

Zwei Kurdenflügel

 

Ein Friedensprozess wurde 2014 eingeleitet, dessen erste Schritte auch durchgeführt wurden. Die PKK zog sich aus allen türkischen Gebieten zurück und hielt sich an einen Waffenstillstand. Doch der nächste Schritt kam nicht zustande. Die PKK hätte jetzt ihre Waffen abgeben müssen. Im Gegenzug hätte die türkische Regierung politische Konzessionen machen müssen.

Die Kurden teilten sich in kriegerische und in politische Gruppierungen. Die kriegerischen waren der Ansicht, der türkische Staat werde nie die politischen Zusagen erfüllen, die er gemacht hatte, es sei denn unter dem Druck kurdischer Waffen. Die Politiker hingegen glauben dran, dass mit politischen Mitteln mehr erreicht werden könne als mit den Waffen.

 

Erfolg der Politik, nicht der Waffen

 

Dem Kurden-Politiker Selahettin Demirtasch gelang, was nie zuvor gelang. Er vermochte mit seiner Partei bei den Wahlen vom vergangenen Juni die 10 Prozent-Hürde zu überspringen und damit 80 kurdische Abgeordnete ins türkische Parlament zu schicken. Er durchkreuzte damit die Pläne Erdogans, sich selbst mit einer Verfassungsänderung zum exekutiven Präsidenten der Türkei zu befördern.

 

Die Befürworter der Waffengewalt im Kandil-Gebirge glaubten nicht mehr an den Friedensprozess und verloren die Geduld. Sie weigerten sich, ihre Waffen abzugeben und schritten zu blutigen Kleinaktionen in den türkischen Grenzgebieten. Ihr wichtigster militärischer und politischer Anführer heisst Cemil Bayak.

 

Erfolgreiche Kurden-Kämpfer

 

Die Ereignisse in Syrien verschärften die Spannungen zwischen der AKP-Regierung in Ankara und den Kurden der PKK. Vor allem deshalb, weil der syrische Ableger der PKK, HDP genannt (Demokratische Volkspartei, oder Volksdemokratische Partei, wie man es auch übersetzen kann), sich in den syrischen Kurdengebieten als militärisch erfolgreich erwies. Die HDP-Milizen, darunter auch Soldatinnen, schlugen nach bitteren Kämpfen im vergangenen Jahr die Terroristen des „Islamischen Staats“ aus Kobane zurück.

 

Später eroberten sie auch die Grenzstadt Tell Abyad, östlich von Kobane. (Siehe Karte unten) Sie gewannen auch Gelände westlich von Kobane, so dass die türkische Regierung zu fürchten begann, die syrischen Kurden könnten die an der türkischen Grenze liegenden drei "Kantone" mit kurdischer Bevölkerung zu einem zusammenhängenden Streifen zusammenschliessen. So entstünde ein kurdisches Hoheitsgebiet längs der türkischen Südgrenze.

 

Türkischer Druck auf die USA

 

Ankara weigert sich, einen Unterschied zwischen der syrischen Kurdenpartei HDP und der türkischen PKK zu machen. Die syrische "Tochterpartei" ist für Ankara ein Ableger der PKK. Die Amerikaner unterscheiden zwischen den beiden. Sie helfen der HDP mit ihren Flugzeugen im Kampf gegen den IS, während sie die PKK und deren Kampf gegen die türkische Regierung als "terroristisch" einstufen.

 

Ob sie es auch in Zukunft so halten werden, ist nicht ganz gewiss. Ohne Zweifel versuchen die Türken, Druck auf Washington auszuüben, um die amerikanische Zusammenarbeit mit den syrischen Kurdenkämpfern aufzugeben. Möglicherweise wird ihnen die versprochene Benützung der Incirlik-Luftbasis als ein Druckmittel dienen. Es heisst, Incirlik stehe den Amerikanern offen, doch es gebe dafür "Bedingungen".

 

Kein Kurdengebiet an der syrischen Grenze

 

Die Vorstellung eines der PKK nahe stehenden Kurdengebiets an ihrer langen Südgrenze ist für die türkische Regierung unannehmbar. Erdogan selbst hat dies in wiederholten scharfen Erklärungen deutlich gemacht.

 

Nördlich dieser Grenze leben ebenfalls Kurden, zu denen jetzt über eine Million Flüchtlinge aus Syrien gestossen sind, darunter Kurden, Araber und andere Minoritäten.

 

Gute Beziehungen mit den irakischen Kurden

 

Neben der PKK gibt es auch noch die irakischen Kurden. Sie verfügen zur Zeit über viel Autonomie. Praktisch sind sie von Bagdad unabhängig. Ihre Kämpfer gehen erfolgreich gegen den „Islamischen Staat“ vor, im Gegensatz zur irakischen Armee. Die irakischen Kurden werden von den Amerikanern und Europäern mit Waffen beliefert und ausgebildet. Mit der Türkei unterhalten sie gute Beziehungen.

 

Masud Barzani, der irakisch-kurdische Präsident, besucht immer wieder Ankara. Die Türkei dient ihm als Zugang zum Mittelmeer für eigene Importe und für Exporte von "kurdischem" Erdöl.

 

Zerreissprobe für die Kurden

 

Barzani hat somit gemeinsame Interessen mit Salahettin Demirtasch, dem Chef der gegenwärtig legalen politischen Kurdenpartei in der Türkei. Beiden liegt daran, die Beziehungen zu Ankara und der dort herrschenden AKP soweit friedlich zu halten, dass die Politik über die bewaffnete Auseinandersetzung dominiert.

 

Wenn nun Ankara zum Kampf gegen die PKK und ihre Bewaffneten im irakischen Qandil-Gebirge übergeht - Bombardierungen aus der Luft haben begonnen - stellt Ankara die irakischen Kurden und die Kurdenpartei der Türkei, die HDP Demitaschs, vor Zerreissproben: kurdische Solidarität oder Fortführung der politischen Erfolge, die Barzani und Demirtasch bisher verzeichnen konnten?

 

Vergeltung für Suruç?

 

Deshalb haben sich beide, der irakische Kurdenpräsident und der türkische Parteichef, für eine Fortsetzung des Friedensprozesses zwischen Ankara und der PKK ausgesprochen. Doch der Krieg ist nun ausgebrochen, und die türkische Regierung der AKP sowie die Bewaffneten der PKK scheinen gewillt, ihn auszufechten.

 

Es waren die "Falken" der PKK, die ihn ausgelöst hatten. Sie hatten zwei türkische Polizisten überfallen und getötet. Dies sei eine Vergeltungsaktion, erklärten sie. Die Polizisten hätten dem IS geholfen, das Massaker in der türkischen Grenzstadt Suruç vom 20. Juli durchzuführen. Dabei waren 32 vorwiegend junge Menschen ums Leben gekommen.

 

Pläne für eine IS-freie Zone

 

Der „Islamische Staat“ ist der zweite Feind, gegen den die Türkei nun vorgehen will. Zunächst griff die türkische Armee Positionen des IS jenseits der Grenze an.

 

Die türkische Zeitung "Hürriet", die traditionell den türkischen Militärs nahesteht, veröffentlichte einen Plan für eine Pufferzone jenseits der Grenze. Dieser Plan soll von türkischen und amerikanischen Diplomaten ausgearbeitet worden sein. Auch der türkische Aussenminster sprach von diesem Vorhaben. Die Amerikaner schwiegen.

 

Geplant wäre eine etwa 90 Kilometer lange und 40 Kilometer breite Pufferzone an der türkisch-syrischen Grenze. Sie soll sich von Jarablus bis nach Azaz erstrecken. Aus diesem Streifen soll der IS "vertrieben" werden. Dies ist jener Sektor der Grenze, der sich nicht oder noch nicht in Händen der syrischen Kurden befindet. Er liegt zwischen dem zurzeit von der Kurdenkämpfern der DHP beherrschten zwei Kantonen im Osten: Qameschli und Kobane - und der kurdisch bewohnten Region von Afar. Im Süden würde er bis in die Nähe der umkämpften Grossstadt Aleppo reichen. Wenn dieser "Puffer" vom IS befreit sein werde, so "Hürriet", könne die Freie Syrische Armee (FSA) die Verantwortung für seine Sicherheit übernehmen, mit Unterstützung der Amerikaner und der türkischen Streitkräfte.

 

Luftkrieg über der Pufferzone?

 

Was "Hürriet" nicht erwähnt, ist die syrische Regierung. Sie übte bisher die Lufthoheit über ganz Syrien aus. Syrische Kampfflugzeuge und Helikopter bombardieren regelmässig Gebiete, die die Rebellengruppen erobert hatten. In jüngster Zeit werden fast ausschliesslich „Fassbomben“ eingesetzt. Diese richten vor allem unter der Zivilbevölkerung Schaden an. Aleppo hat besonders unter dieser Art Kriegsführung zu leiden. Damaskus will offenbar die Rebellen daran hindern, in den von ihnen beherrschten Gebieten eine einigermassen funktionierende Lokalverwaltung einzurichten. Sicher würde Damaskus auch die Pufferzone bombardieren. Dies würde einen Luftkrieg auslösen.

 

Natürlich möchte Ankara die Unterstützung der USA gewinnen. Ob diese jedoch bereit sind, eine Pufferzone militärisch zu verteidigen, ist unklar. Die Türkei müsste auch damit rechnen, dass die Terroristen des „Islamischen Staaten“ – sollten sie den aus der Pufferzone vertrieben worden sein – alles daran setzen werden zurückzukehren.

 

Schwer zu realisieren

 

Die „Freie Syrische Armee“ wird sich schwerlich gegen den IS durchsetzen können. Ihre bisherigen Misserfolge machen dies deutlich.

 

Ausserdem sind auf dem Gebiet der vorgesehenen Pufferzone neben dem IS und der Freien Syrischen Armee zahlreiche andere Kampftruppen tätig: vor allem die Nusra-Front und die mit ihr verbündete "Islamische Armee", die aus vielen islamistischen Kampfgruppen zusammengeschmolzen ist und saudische Unterstützung geniesst. All dies deutet darauf hin, dass der angebliche Plan einer Pufferzone nur schwer zu realisieren ist.

 

Wahlkampfmunition?

 

Noch ist es in der Türkei nach den Wahlen im Juni nicht gelungen, eine Koalitionsregierung zu bilden. Je länger die Verhandlungen dauern, desto wahrscheinlicher werden Neuwahlen. Es gibt Berichte, nach denen Erdogan hoffe, in dieser zweiten Wahl doch noch die angestrebte Mehrheit zu erringen, die ihm erlauben würde, seine Pläne einer Verfassungsänderung zu Gunsten seiner erstrebten exekutiven Präsidentschaft durchzuführen.

 

Hofft Erdogan, mit seinen Kriegsplänen die Chancen seiner Partei bei künftigen Wahlen zu erhöhen?