Zerfallsphänomen: Das Bewegungsforscherduo Roth/Rucht

Erstveröffentlicht: 
29.06.2009
Von Markus Mohr

In jüngster Zeit sind die Bewegungsforscher Roland Roth und Dieter Rucht in einer Reihe von Medien zu gefragten Experten in Sachen Protest aufgestiegen. Das ist sicher auch auf ihr Buch »Die sozial­en Bewegungen in Deutschland seit 1945« zurückzuführen. Es erschien im Frühling 2008 und ist fast 800 Seiten dick. Die Süddeutsche Zeitung erklärte es zum »Standardwerk«. Dieses »Handbuch« wurde nicht nur allein mit Unterstützung des Wissenschaftszentrums Berlin realisiert, das Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen hat auch geholfen. Einem seiner Angestellten, Thomas Grumke, haben es Roth und Rucht hinter dem Rücken aller anderen Autoren ermöglicht, Neonazi-Terror als »Aktionsrepertoire« und als »Streben nach grundlegendem sozialen Wandel« zu bagatellisieren. Energischen Protest gegen die verdeckte Präsenz eines Subalternen der Staatssicherheit West in einem Projekt zur Erforschung sozialer Bewegungen, sind Roth und Rucht mit gelassener Souveränität begegnet: Private Briefe eines entfernten Projektbeteiligten haben sie einfach an das Landesamt weitergeleitet.
Roth und Rucht sind also institutionell außerordentlich gut vernetzt. Sie stehen für fachgutachterliche Stellungnahmen aller Art gern zur Verfügung. Wenig überraschend ist es dabei, daß Roth und Rucht in der stets unruhigen Mai-Zeit auch zu den Autonomen befragt werden. Klar, daß die Bewegungsforscher mit den Autonomen nicht sehr viel anzufangen wissen, lehnen diese doch die von Roth und Rucht in ihrem Handbuch explizit geltend gemachte Perspektive eines »aktiven Verfassungsschutzes« in der aktiven Bürgergesellschaft schon deshalb ab, weil sich damit weder in Gegenwart noch in Zukunft ein glückliches Leben beschreiben läßt.

Kurz vor dem Kreuzberger »Revolutionären 1. Mai« verneinte Roth in einem Interview mit der taz die Polizeifrage, ob denn nun »am 1. Mai der Aufstand« beginne, um den Autonomen den vieldeutigen Begriff »Rächer der Enterbten« unterzuschieben. Damit entwirft er eine Klischeefolie, gemixt aus Hollywood-Western und der Märchenfigur Robin Hood. Seine Entscheidung, auf eine dumme Frage eine dumme Antwort zu ergänzen, speist sich aus seinem kühl kalkulierten Interesse, das politische wie soziale Anliegen von Autonomen gar nicht erst zur Sprache zu bringen.

Anläßlich der Berliner »Action Days« stand dann Rucht einem Moderator des Deutschlandradios Rede und Antwort. Rucht wußte im Grunde Beruhigendes mitzuteilen. Gefragt, »welche Zukunft« er denn den Autonomen gebe, verwies der aktive Verfassungsschützer auf »Zahlen«, die wohl gegenüber früheren Zeiten »nachgelassen« haben sollen. Schlußfolgerung Rucht: Die Autonomen sind »ein Zerfallsphänomen, würde ich sagen, Zerfallsprodukt der 80erJahre, das aber eine gewisse Zählebigkeit noch aufweist.«

Ich persönlich habe es zeit meines außerinstitutionellen politischen Engagements seit dem Ende der 70er Jahre gelernt, mit Prognosen wie diesen umzugehen, ja sie zu überleben. Deshalb soll ihnen auch gar nicht erst widersprochen werden. Die Frage muß aber erlaubt sein, ob denn die Professoren Roth und Rucht mit dem den Autonomen zugeschriebenen bösen Begriff des »Zerfallsphänomens« unzulässig von sich auf andere schließen? Gewiß ist hier jedenfalls nur, das sich diese beiden Mitglieder im ATTAC-Wissenschaftsrat einerseits auf den Slogan: »Eine andere Welt ist möglich« verpflichtet haben und andererseits mit den Institutionen zusammenarbeiten, deren Auftrag nun mal darin besteht, genau die »alte Scheiße« (Marx) mit allen regulären und irregulären Gewaltmitteln aufrechtzuerhalten. Wenigstens das muß als intellektuelles Zerfallsphänomen gelten.