Rede zum 9. November 1938 in Witten

Trotz Allem

Hier dokumentieren wir unsere am Sonntag, 9. November 2014, gehaltene Rede auf der Gedenkveranstaltung zum 9. November 1938 in Witten.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Wittener Mitbürgerinnen und Mitbürger,

heute vor 76 Jahren setzten Wittener das Gotteshaus ihrer jüdischen Mitbürger in Brand. Damit wollten Sie ein deutliches Zeichen setzen, dass ein Zusammenleben jüdischer und nicht-jüdischer Deutscher seitens der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung zukünftig nicht mehr erwünscht sei, dass die Juden aus ihrer Mitte zu verschwinden hätten. Etwaige Heldentaten, dies zu unterbinden oder sich in irgendeiner Art und Weise mit den Wittener Juden zu solidarisieren, sind nicht überliefert. Die Wittener Feuerwehr beschränkte sich, wie andernorts auch, darauf die umstehenden Wohnhäuser vor einem Übergreifen der Flammen zu schützen; Anstalten die Synagoge zu löschen wurden nicht unternommen.

 

20 Jahre nach der Novemberrevolution nutzten die Nazis und ihre Sympathisanten so die Gelegenheit, einen – aus ihrer Perspektive – historischen Makel zu korrigieren und sich an den verhassten, sogenannten Novemberverbrechern zu rächen. Hier sollte Geschichte gemacht werden. Egal ob wir aus unserer heutigen Perspektive bei der Betrachtung der Novemberpogrome mehr den planerischen Aspekt oder mehr den Aspekt der sich spontan involvierenden Bevölkerung betonen, die Novemberpogrome waren ein darstellender Akt, innerhalb dessen sich die nicht-jüdische deutsche Bevölkerung als homogene Gemeinschaft imaginerte. Nach der Meinung der Nationalsozialisten und ihrer Sympathisanten sollten die Juden, die in ihren Augen eine parasitäre Lebensform darstellten, aus dem deutschen Volkskörper entfernt werden. In der Folge der Novemberpogrome forcierte das Deutsche Reich seine antijüdische Politik, das Ziel das Reich judenfrei zu machen wurde erklärte Politik. Für die antisemitische Gewalt des NS-Regimes hatten die Pogrome vom 9. November einen katalysatorischen Effekt, man fühlte sich vom Volk bestätigt.

 

Wenn wir uns heute hier versammeln, um an die Novemberpogrome zu erinnern, dann haben wir uns angewöhnt, an die Opfer der antisemitischen Gewalt zu erinnern, an die Wittener Juden. Wir wollen damit zeigen, dass es der von den Nazis propagierte Rassenwahn war, der die Juden als außerhalb der nationalen Volksgemeinschaft stehend imaginierte; die Juden in ihrer Mehrheit sich aber sehr wohl als Deutsche fühlten, Teil der deutschen Gesellschaft sein wollten. Die Erinnerung daran ist richtig und wichtig!

 

Wir sollten uns aber auch daran erinnern, dass die Täter – diejenigen also, die die antisemitische Gewalt verübten, – keine randständigen Personen waren, sondern aus der Mitte der Wittener Stadtgesellschaft heraus agierten. Sie konnten sich bei ihrem Tun darauf verlassen, auf keinen Widerstand zu stoßen und vielmehr mit der schweigenden oder offenen Komplizenschaft ihrer Mitbürger rechnen. Die Namen der Brandstifter, die die Wittener Synagoge in Brand setzten, konnten bis heute nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Wohl aber diejenigen der Mitglieder des Wittener SS-Trupps, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Annen und Rüdinghausen wüteten. Sie zerrten Wittener Juden aus ihren Wohnungen in der heutigen Bebelstraße, der damaligen Herrmann Göring-Straße, misshandelten einige von ihnen schwer und schlugen die Scheiben jüdischer Geschäfte ein. Unter ihnen waren:

  • Der 34jährige Schlosser Walter Bierhoff,
  • der 36jährige Maschinenschlosser Gustav Grünschläger,
  • der 33jährige Werkmeister der Ruhrstahl AG Annen Walter Kirchhoff,
  • der 39jährige Reichsbahngepäckarbeiter Theodor Kleffmann,
  • der 35jährige Kaufmann Albert Küthe,
  • der 39jährige Heizungsmonteur Julius Lückel,
  • der 24jährige Bergmann Hugo Potthoff,
  • der 21jährige Zimmermann Hermann Scheibelhut,
  • sowie der 40jährige Techniker der Ruhrstahl AG Walther Vollmer.

Lassen Sie uns gemeinsam den 9. November zum Anlass nehmen, auch dem zu gedenken, dass die Mehrheit der Deutschen seinerzeit keine Opfer waren, sondern Täter, Mittäter oder Claqueure.

 

Wir sollten an diesem Tag aber auch Anstoß daran nehmen, dass Antisemitismus auch in diesem Jahr wieder fröhliche Urständ feierte. Auch hier auf die Mauer neben dem Mahnmal hatte man „Fuck Israel“ gesprüht. Aus Anlass des erneut eskalierten Gaza-Konfliktes gingen deutschland- und europaweit Menschen auf die Straße um ihre Solidarität mit den Palästinensern kund zu tun; allerdings immer wieder unter offener Bekundung antisemitischer Positionen und Parolen; auf Plakaten dieser Demonstranten konnte man etwa lesen: „Früher angeblich Opfer, heute Täter!“ – eine Formulierung, die nicht nur den Holocaust in Frage stellt, sondern auch noch die Israelis eines Völkermordes bezichtigt, so wie alle Juden weltweit für das Handeln der israelischen Regierung in Geiselhaft nimmt. In Essen war nach einer von der „Linksjugend solid“ angemeldeten Demonstration dem antisemitischen Mob kein Einhalt mehr zu bieten. Hier wurden Menschen, die eine israelsolidarische Position vertraten massiv körperlich angegriffen und mit Steinen, Feuerzeugen und Flaschen beworfen. So ergab sich am Ende des Tages die paradoxe Situation, dass Menschen, die zuvor eine sich als dezidiert links verstehende Veranstaltung besucht haben, Hitlergrüße zeigten und die islamistische Terrororganisation Hamas abfeierten. Der Landesvorstand der NRW-Linken zeigte sich von diesen Vorfällen nicht etwa entsetzt, sondern verkaufte ihre Demo als gelungene Friedenskundgebung und erfuhr dafür auch noch Unterstützung einiger Bundestagsabgeordneter der Links-Partei. Für jeden der sich in irgendeiner Art und Weise als links versteht, ist das ein beschämender Vorgang, wie auch einige Mitglieder – vor allem anderer Landesverbände – der Linkspartei vernehmen ließen.

 

Der unter den Nazis ermordeten Juden sollten wir heute gedenken, unsere Solidarität aber benötigen die lebenden Juden. Antisemitismus ist daher zu bekämpfen, egal ob er sich neonazistisch, islamistisch oder links-antiimperialistisch begründet.

 

Anstatt wie in den vergangenen Jahren hier einen Kranz niederzulegen, haben wir uns in diesem Jahr entschlossen, dieses Geld der Amadeu Antonio Stiftung für ihren Kampf gegen Antisemitismus und rechte Gewalt zu spenden.

 

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.