Seit einigen Tagen befindet sich der „Islamische Staat“ in Kobanê – jener Stadt, die zum Symbol der kurdischen Selbstverwaltung geworden ist. Es toben heftige Kämpfe, doch die kurdischen Verteidigungstruppen der YPG/YPJ haben noch nicht aufgegeben. Nachdem die ganze Woche über in ganz Deutschland und Europa Demonstrationen bzw. Aktionen in Solidarität mit Kobanê und gegen den IS stattfanden, ruft ein Bündnis aus u.a kurdischen, yesidischen und alevitischen zur zentralen Großdemonstration in Düsseldorf auf. Gemeinsam mit anderen Gruppen haben wir auch einen Aufruf geschrieben und mobilisieren nach Düsseldorf. Zugtreffpunkt aus Köln ist um 9 Uhr vor dem Hauptbahnhof.
Biji Berxwedana Kobanê!
Es lebe der Widerstand in Kobanê!
Demokratische Selbstverwaltung statt IS-Dschihadismus!
Die Todesbanden der selbsternannten “Gotteskrieger*innen” des “Islamischen Staates” (IS) sind seit der Nacht vom fünften auf den sechsten Oktober in die kurdische Stadt Kobanê eingefallen – es droht ein Massaker an der dort verbliebenen Bevölkerung. Weltweit haben Kurd*innen seit Wochen an die Weltöffentlichkeit appelliert, ihnen das Recht zur Selbstverteidigung und des Schutzes ihres Lebens einzuräumen. Doch die Welt schweigt.
Die kurdischen Selbstverteidigungskräfte Yekîneyên Parastina Gel (YPG) und die Frauenverteidigungskräfte Yuh-Pah-Juh (YPJ) verteidigen Kobanê bis zur letzten Patrone gegen den Ansturm der hochgerüsteten Dschihadist*innen des „Islamischen Staates“. Mit veralteten Waffen, Mut und sehr viel Entschlossenheit gelang es ihnen, den Vormarsch zu verlangsamen. Dabei verteidigen die YPG/YPJ zur Stunde in Kobanê nicht nur ihr eigenes Leben und das Leben der Bevölkerung, sondern die kurdische Selbstverwaltung und deren emanzipatorischen Errungenschaften wie Basisdemokratie und Frauenpartizipation. In Kobanê kämpfen die Menschen nicht nur für das Leben, sondern verteidigen die Idee der universellen Humanität.
Die Wahrheit ist konkret. – Demokratische Selbstverwaltung oder IS-Dschihadismus?
Der Terror des Assad-Regimes und der Bürger*innenkrieg in Syrien haben ein unermessliches Leid über die Bevölkerung gebracht und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Der „Islamische Staat“ nutzte die aus dem Bürger*innenkrieg entstandene humanitäre wie politische Krise zur Expansion; dort kämpfte er faktisch an der Seite des Assad-Regimes, indem er konkurrierende dschihadistische Gruppen wie die Al-Nusra-Front, aber auch die Freie Syrische Armee und die demokratischen Selbstverteidigungskräfte der Kurd*innen, bekämpft hat.
Trotz der katastrophalen Auswirkungen des Krieges haben die Menschen in Westkurdistan (Nordostsyrien) in der Region Rojava seit 2011 begonnen, eine politische und soziale Revolution durchzuführen, die eine alternative Entwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen angestoßen hat. Inspiriert vom Modell des Demokratischen Konföderalismus wurde eine kommunale und regionale Selbstverwaltung durch Rätedemokratie, Frauenräte und eigene demokratisch organisierte Sicherheitskräfte geschaffen. Die Räte orientieren sich an einer multiethnischen, multireligiösen und antipatriarchalen Vision jenseits des bürgerlich-kapitalistischen Staates. In den Räten ist jede Bevölkerungs- und religiöse Gruppe vertreten und sie werden immer von einer geschlechterquotierten Doppelspitze geleitet. Im Zentrum dieses basisdemokratischen Modells, das angelehnt ist an den kommunalistischen Anarchismus um Murray Bookchin, steht die Frauenbefreiung. Zugleich wird versucht eine neue Form von Ökonomie jenseits kapitalistischer und “feudaler” Ausbeutungsverhältnisse aufzubauen in Form von kommunalen Genossenschaften in der Landwirtschaft wie auch in der Wasserwirtschaft und auf dem Energiesektor. Dieser Versuch eines sozialen Wirtschaftsmodells als Antwort auf den Neoliberalismus hat unter den schwierigsten Umständen von Kriegsökonomie über Militäroperationen bis hin zu Embargopolitik seitens der AKP-regierten Türkei einige Erfolge erreicht. Bei aller Kritik an den Unzulänglichkeiten, die gegeben sind, stellen die Anfänge einer demokratischen Selbstverwaltung nicht nur eine Bastion gegen den IS-Dschihadismus, sondern auch eine historischen Schritt in Richtung einer Antwort auf die postkoloniale Ausbeutungsökonomie dar.
Wie einst der europäische Faschismus in der Arbeiter*innenbewegung seinen Erzfeind erkannte, so begreifen die Dschihadist*innen den demokratischen Aufbruch in Rojava als die größte Gefahr für ihre Vorstellung eines Kalifats, also eines rein islamischen Staates mit Herrschaftsanspruch über alle muslimischen Menschen der Welt. Geführt wird dieses Projekt vom selbsternannten „Kalifen“ Al Baghdadi. Er spricht jedem anderen Staat in der muslimischen Welt die Legitimität ab und befindet ausschließlich sein “islamisches System” für rechtmäßig. Dieses basiert auf den totalitären (alle Lebensbereiche umfassenden) und unhinterfragbaren politischen und „religiösen Machtbefugnissen” von Al Baghdadi. Er allein sei das politische Oberhaupt, er allein sei die “oberste religiöse Autorität“ , er allein zeichnet sich für die “Scharia“, das “göttliche Gesetz“, verantwortlich. Wer Al Baghdadi die Huldigung verweigert, gilt als ein “Abtrünniger“ (murtadd), was in der Regel das Todesurteil bedeutet. Der “Islamische Staat“ ist eine moderne Maschine des Todes, er lebt von einer Vernichtungsideologie gegenüber allen “Ungläubigen“ und „Abweichler*innen“.
Die scharfe Opposition zu diesem Projekt des Wahnsinns richtet sich nicht primär an der Frage von Religiosität, in diesem Fall gegen den Islam, aus. Der expansive religiöse Fundamentalismus des “Islamischen Staates” ist eine höchst autoritäre politische Formierung in einem von der Krise politisch wie sozial zerfallenen Gebiet, welches sich klar und deutlich als mörderisch, brutal, fundamentalistisch, sexistisch und homophob hervortut. Die Relativierung dieser politischen Dimension auf ein “kulturelles Phänomen” verdeckt den Bezug auf die kapitalistischen Widersprüche vor Ort und bedient rassistische sowie kulturalistische Argumentationen von der politischen Rechten. Genauso, wie die kurdische Selbstverwaltung eine fortschrittliche Antwort auf die Krisenhaftigkeit der Region darstellt, so ist der “Islamische Staat” keine “kulturelle” oder “spirituelle” Erscheinung, sondern eine reaktionär-fundamentalistische politische.
Weder Ankara noch Berlin
Während die Menschen zu Hunderttausenden vor dem dschihadistischen Terror fliehen müssen, erklärt die türkische Regierung die demokratischen Selbstverteidigungskräfte (YPJ/YPG) zu einer vergleichbar großen “terroristischen Gefahr“, während die deutsche Regierung durch ihre Handeln dieser Position der türkischen Regierung Rückendeckung gibt. Mit dieser widerwärtigen Gleichsetzung offenbaren Ankara wie Berlin ihre wahren Interessen im Nahen Osten. Alle Lippenbekenntnisse den Kurd*innen gegenüber, gegen den IS-Terror praktische Hilfe zu leisten, sind nichts als Lügen-Märchen. Die deutsche Regierung verfolgt allein wirtschaftspolitische Interessen und steht in geopolitischen Fragen an der Seite ihres NATO-Bündnispartners Türkei. Ankara will die dramatische Situation nutzen um alle demokratischen Versuche nach mehr Selbstbestimmung der kurdischen Bevölkerung im eigenen Land zu unterdrücken und sich zugleich als Beschützer der Sunnit*innen im Nahen Osten aufzuspielen. Es droht neben dem Massaker an der Bevölkerung durch den IS auch noch der Einmarsch der türkischen Armee in die demokratisch selbstverwalteten Gebiete. Ankara lässt die IS-Dschihadist*innen gewähren und unterstützt diese damit – durch ungestörte Grenzüberquerungen oder durch geduldete Waffen- und Materiallager in Grenznähe. Gleichzeitig unterbindet die türkische Regierung alle verzweifelten Versuche den Menschen in Kobanê zu helfen mit brutaler polizeilich-militärischer Gewalt. Die Katastrophe von Kobanê ist kein Zufall, sie ist der politische Wille der deutschen wie der türkischen Regierung und der vorläufige Höhepunkt einer systematisch anti-kurdischen Politik!
Schluss mit dem Geheuchel der Regierungen!
Humanitäre Hilfe für Kurdistan! Waffen für die YPG/YPJ! Weg mit dem Verbot der PKK!
Die Menschen in Kobanê werden derzeit weder aus Ankara noch aus
Berlin Hilfe erhalten. Es ist an der gesellschaftlichen Linken in der
BRD wie in der Türkei das Gewissen der Menschheit zu verteidigen.
Aufgrund der Bedrohung durch den IS-Dschihadismus bedarf es einer
Diskussion über andere Kampfformen und praktischer Solidarität als sie
bisher nur in Ansätzen geleistet wurde.
Unmittelbarer Ansatzpunkt in der BRD bildet die Lebenssituation der
geflüchteten Menschen. Die verlogene Moral der bürgerlichen Regierungen
zeigt sich im europäischen Abschottungsregime Frontex. Allein die
Etablierung eines Ortes, wo Leben und Würde nicht tagtäglich bedroht
sind, ist die unmittelbare Notwendigkeit des tagespolitischen Handelns.
Gegen die Kriminalisierung der demokratischen Selbstverteidigungskräfte
von Rojava gilt es die politische Aufklärung voranzutreiben und das Ende
der politischen Verfolgung von kurdischen und türkischen Linken Gruppen
einzufordern.
In Nordkurdistan (Türkei) und Südkurdistan (Irak) und Europa finden grade massive Proteste statt. In vielen europäischen Städten besetzen Kurd*innen und Internationalist*innen Medien, Regierungsgebäude und Flughäfen. In vielen Teilen Kurdistans ist ein Aufstand losgebrochen und es kommt zu massiven Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär, wobei inzwischen mehr als 17 Menschen ermordet wurden.
Kobanê ruft auf zur Tat!
Bundesweite Demonstration in Düsseldorf gegen IS und für Kobanê!
Samstag, 11. Oktober um 10:00, Kaiser-Wilhelm-Ring, Düsseldorf
Zugtreffpunkt aus Köln: 9 Uhr am Hauptbahnhof, Haupteingang
Aufrufende Gruppen:
– Antifa AK Köln (uG)
– Interventionistische Linke Köln
– Brigada Hora Azul (BHoA)