Kann man sich mit Kippa noch auf die Straße trauen?

Erstveröffentlicht: 
20.07.2014

Als Jude in Deutschland lebt man mittlerweile wieder gefährlich. Das glauben Sie nicht? Dann besuchen Sie doch die nächste Pro-Gaza-Demonstration. Folgen Sie einfach den "Juden ins Gas"-Rufen.

 

Zum Geburtstag bekam ich von meinen Eltern eine Kette mit einem Davidstern als Anhänger geschenkt. Ich trage sie offen und werde hin und wieder darauf angesprochen. Es ist nur ein Anhänger, wie viele Menschen ihn haben. Kein Zeichen des Glaubens oder der totalen Zugehörigkeit, nur ein Stückchen Identität. Doch sobald in Israel wieder die Raketen fliegen, werde ich für viele zum Israeli. Und was das bedeutet, war jüngst wieder bei Demonstrationen in Frankfurt, Bremen und Paris zu beobachten.

"Ihr Juden seid Bestien", hatte ein Teilnehmer der Demonstration in Frankfurt auf seinem Schild stehen. Anstandshalber hatte er es wieder halbherzig durchgestrichen und einen anderen Spruch auf die Rückseite geschrieben. Genug Anstand, um das Schild zu Hause zu lassen, hatte er nicht.

Ansonsten wurden Flaggen internationaler Terrororganisationen geschwenkt und "Kindermörder Israel" geschrien, nichts Außergewöhnliches, leider. Bemerkenswert war nur, dass den 2500 Demonstranten nur einige Dutzend Polizisten gegenüberstanden. Als junge Islamisten in Rage gerieten, war die Polizei machtlos. Um zu deeskalieren, überließ man den Demonstranten sogar einen Polizeibus – aus dessen Megafon bald ebenfalls "Kindermörder Israel" tönte.

 

Polizeischutz für Passanten? Fehlanzeige


Auch in Bremen eskalierte die Lage. Ein Passant wurde niedergeschlagen und schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, ein "taz"-Redakteur wurde angegriffen und bedroht. Die Demonstration, die aggressiv endete, wurde von einem einzigen Streifenwagen begleitet. Tatsächlich hatten die Demonstranten keinen Polizeischutz nötig, alle anderen jedoch umso mehr.

Es ist völlig in Ordnung, die Menschen im Gazastreifen zu unterstützen. Es ist absolut in Ordnung, Israel massiv zu kritisieren. Meinungsfreiheit steht immer über Objektivität. Doch wenn aus Israelkritik antisemitische Hetze wird, ist eine Grenze überschritten.

Für Juden kommt die Gefahr lange nicht mehr nur von rechts. Die meisten haben noch nie einen Nazi gesehen. Aber jüdische Schüler bekommen antizionistische Drohbriefe, wenn Israel auf den Raketenbeschuss der Hamas reagiert. Der lauteste Teil der Unterstützer Palästinas hat jegliches Maß verloren und gibt allen die Schuld, die Kippas oder Davidsterne tragen. Das ist Rassismus.

In Deutschland zelebriert man jede NPD-Demonstration als Happening. Gegendemonstranten aller Altersgruppen und politischer Strömungen versammeln sich zu einem fröhlichen Fest der Toleranz des neuen Deutschlands. Und wenn die Neonazis unter massivem Polizeischutz abziehen, scheint der Kampf gegen Nationalismus und Antisemitismus gewonnen, jedes Mal aufs Neue. Dass währenddessen antisemitische Parolen und Gewalt unter dem Vorwand der Unterstützung von Gaza verbreitet werden, findet kaum Beachtung.

 

Jude ist Jude, ob in Israel oder Essen


In Essen kam es nun sogar zu einer Polizeiaktion vor den geplanten Protesten. 14 Personen wurden festgenommen, weil sie offenbar einen Anschlag auf die Alte Synagoge planten. Mit Israel und Gaza hat das nichts zu tun. Denn was können überwiegend russische Juden in Deutschland für das Vorgehen der israelischen Regierung? Den festgenommenen Männern ist das letztlich egal. Jude ist Jude, ob in Israel oder in Essen.

Die Berliner Demonstranten sahen es genauso, als sie vor einer Synagoge standen und "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!", skandierten. Dass sie selbst im Mob standen und keineswegs allein waren, störte sie nicht. Die Polizei stand seelenruhig daneben und tolerierte die antisemitischen Sprechchöre, ohne mit der Wimper zu zucken.

Was am 13. Juli in Paris geschah, erreichte eine neue Dimension. Eine zunächst friedliche Demonstration zur Unterstützung des Gazastreifens endete darin, dass Gruppen junger Demonstranten sich in Richtung jüdischer Einrichtungen aufmachten, während in einer Synagoge gerade 200 Menschen beteten. Nur mit Mühe konnten jüdische Sicherheitskräfte, Freiwillige und Polizisten die wütende Menge abhalten, in die Synagoge einzudringen. Mehrere Verteidiger mussten verletzt ins Krankenhaus gebracht werden.

Solche Ereignisse sind in Frankreich keine Seltenheit mehr und haben Folgen. Französische Juden wandern immer mehr nach Israel aus, 2013 stieg ihre Zahl um 60 Prozent.

 

Nahost-Konflikt nach Frankreich importiert

 

Die Franzosen haben erkannt, dass im Schatten der Proteste Straftaten begangen werden, die unter dem Deckmantel der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit als Eskalationen im Medienrummel untergehen. Wenn aber Hunderte sich aufmachen, um eine Synagoge zu stürmen, treten sie die Errungenschaften westlicher Demokratien mit Füßen.

Eine für Samstag geplante Demonstration für Palästina wurde von der Polizei verboten, das Risiko gewalttätiger Ausschreitungen sei zu hoch. Prompt kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Dass weitere Verbote folgen werden, ist wahrscheinlich, denn selbst Präsident François Hollande sprach davon, den Nahost-Konflikt nicht nach Frankreich importieren zu wollen.

Und in Deutschland? Angela Merkel hat die Sicherheit Israels zur Staatsräson erklärt, Bundespräsident Joachim Gauck nennt sie zumindest "bestimmend" für die deutsche Politik. Doch Israel hin oder her, zuallererst trägt Deutschland die Verantwortung für seine eigenen Bürger – auch die jüdischen.

Wenn aber die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson diskutiert wird, während die Sicherheit der Juden in Deutschland einem einzigen Streifenwagen überlassen wird, stimmt etwas nicht im Lande derjenigen, die so stolz auf ihre Lehren aus der Geschichte sind.

 

Mit Kippa ist man in der Öffentlichkeit nicht sicher

 

Denn seien wir mal ehrlich, mit Kippa oder Israelflagge wird man eine propalästinensische Demonstration nicht unbeschadet passieren können, wie man am Wochenende in Berlin sehen konnte, wo ein jüdisches Ehepaar angegriffen wurde. Wenn in Gelsenkirchen "Juden ins Gas" skandiert wird und die Polizei zuschaut, ist die einzige Sicherheitsmaßnahme für Juden in Deutschland ihre eigene Vorsicht.

Und wer solche Losungen einmal in der Öffentlichkeit gehört hat, wird sich auch in Zukunft überlegen, ob er die Kippa nicht lieber zu Hause lässt. Während einige Verbände die Öffentlichkeit davon überzeugen wollen, "die neuen Juden" zu sein, ist es offensichtlich, wer die neuen Juden sind. Es sind immer noch die Juden.

Als die Duisburger Polizei 2009 bei einer Demonstration in eine Wohnung eindrang, um eine Israelflagge zu entfernen, damit die Lage nicht eskalierte, setzte sie ein Zeichen. Anstatt dem gewalttätigen Mob die Grenzen aufzuzeigen, deeskalierte man, indem man das Opfer in seiner Meinungsfreiheit beschränkte.

 

Ob mein Anhänger reicht, um Antisemiten zu provozieren?

 

Was in Duisburg für bundesweite Reaktionen sorgte, ist jüdischer Alltag. Weder an Schulen noch an Universitäten oder öffentlichen Plätzen können sich Juden bedenkenlos als solche zu erkennen geben. Ob auch mein Anhänger schon reicht, um Antisemiten zu provozieren? Deutschland ist kein antisemitisches Land. Aber es lässt zu, dass die jüdische und proisraelische Haltung de facto aus der Öffentlichkeit verbannt wird.

Wenn Günter Wallraff als Afrikaner die deutsche Voreingenommenheit zur Schau stellt oder eine Studentin für RTL II einen Monat ein Kopftuch trägt, kommt zwangsläufig die Frage auf, warum niemand mit einer israelischen Flagge um die Schultern durch Berlin spaziert. Ob das den mutigen Reportern zu gefährlich ist? Oder passt es einfach nicht ins Bild, mal nicht nur Rechte bloßzustellen?

Antisemitismus scheint eine Krankheit von gestern zu sein, die im Geschichtsunterricht ausreichend behandelt wurde. In anderen Ländern ist Judenfeindlichkeit noch immer weit verbreitet und kaum verhüllt, aber nicht in Deutschland? Dann besuchen Sie doch die nächste Demonstration zur Unterstützung von Gaza. Folgen Sie einfach den "Juden ins Gas"-Rufen.

 

Der Autor, 23, wurde in Sankt Petersburg geboren und kam mit seinen Eltern als Kind nach Deutschland. Er studiert Wirtschaftswissenschaften in Frankfurt.