Studie gegen Wissenslücke der Behörden - Keine Ahnung vom Linksextremismus

Erstveröffentlicht: 
27.06.2014

Gewalt von Links - das überfordert die Sicherheitsbehörden. Denn sie wissen nicht, was sie dagegen tun sollen, weil sie nicht verstehen, warum vor allem junge Menschen linksextrem werden, um gegen den Staat zu rebellieren - ob bei "Stuttgart 21" oder im Hamburger Schanzenviertel. Nun soll eine wissenschaftliche Studie Polizei und Verfassungsschutz helfen, diese Wissenslücke zu schließen.

 

Der Satz ließ manchem den Atem stocken: "Es wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn eine Gruppe von Bereitschaftspolizisten bei einer Demonstration durch eine Benzinlache läuft und dann einen Molli fängt, also einen Brandsatz fängt."

Ein Satz, der sich auch als Aufforderung zum Mord an Polizisten verstehen lässt, der in einem linken Internetforum veröffentlicht wurde, unmittelbar nach den Krawallen im Hamburger Schanzenviertel Ende 2013.

 

Nicht ohne Grund sprechen Deutschlands Sicherheitsbehörden jetzt von einer Besorgnis erregenden Zunahme der Gewaltbereitschaft auch im linksextremen Lager. Das Problem: Verfassungsschutz und Polizei wissen wenig darüber, wie diese gesellschaftlichen Prozesse der Radikalisierung ablaufen, warum sich immer mehr, vor allem junge Menschen in der Auseinandersetzung mit dem Staat militanter Mittel und Methoden bedienen.

"Wir haben ein großes Bedürfnis, mehr über unseren Gegner im Bereich des Linksextremismus zu wissen", räumt Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, gegenüber NDR Info ein.
Internes Papier beschreibt Wissens-Dilemma

Eine wissenschaftliche Studie zum Thema Linksextremismus soll diese Wissenslücke jetzt schließen. Die Entscheidung dazu fiel bei der Konferenz der Innenminister (IMK) in Bonn. Ein internes Papier der IMK macht deutlich, wie groß der Wissensmangel ist: "Die Studie soll auch genauere Erkenntnisse über das Umfeld des gewaltbereiten Linksextremismus und mögliche Radikalisierungsprozesse gewinnen." Erkenntnisse, an denen es offenbar mangelt, allen nachrichtendienstlichen Quellen zum Trotz.

 

Den Anstoß zu dieser Studie gab einer, der diese Radikalisierung Ende vergangenen Jahres vor der eigenen Haustür miterleben musste, der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, Manfred Murck: "Sicherheitsbehörden und der Staat generell sollten das Interesse haben zu verstehen, warum Leute gegen ihn protestieren. Und das nicht nur vordergründig auf den Plakaten."

Es gehe darum, die Motive und die Protestformen zu verstehen, um  auch von Seiten der Behörden vernünftiger reagieren zu können. "Vernünftig heißt für mich nicht nur taktisch gerissen, sondern auch so, dass die Möglichkeiten für einen möglichst gewaltfreien Verlauf ausgelotet werden."

 

Linker Protest im bürgerlichen Lager


Dass nicht nur die Sicherheitsbehörden in dieser Frage in einem Wissens-Dilemma stecken, machen nicht nur die Auseinandersetzungen um "Stuttgart 21" deutlich, sondern auch die viel kritisierte Einrichtung der sogenannten "Gefahrengebiete" in Hamburg Anfang 2014. Nach den Krawallen im Schanzenviertel wurden rund 70.000 Menschen tageweise unter eine Art "Generalverdacht" gestellt, was Polizeikontrollen ohne jeden äußeren Anlass ermöglichte und den linken Protest weit ins bürgerliche Lager hineintrug.

 

Klobürste - Zeichen des Hamburger Widerstands


Eine 17 Seiten lange interne Untersuchung der Polizei, die NDR Info vorliegt, zieht eine für die Behörden katastrophale Bilanz: "Einige Personen des polizeilichen Gegenübers machten sich einen Spaß aus den Kontrollen und wollten die Kontrollen ad absurdum führen. Sie bedienten sich satirischer Mittel."

Die Klobürste als Instrument des Widerstands war geboren und die Polizei agierte hilflos: Man sei bestrebt gewesen, "diese Handlungsunsicherheit durch eine einsatzbegleitende Fortbildung abzubauen. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit war dieses jedoch nur eingeschränkt möglich", heißt es in dem Dokument. Die Folge: eine weitgehend negative öffentliche Berichterstattung und ein massiver Autoritätsverlust der Polizei nicht nur im linken Milieu.

 

Mit repressiven, also vor allem nachrichtendienstlichen Mitteln, sei solchen Entwicklungen nicht beizukommen, sagt Verfassungsschützer Murck heute: "Um ein Verständnis dafür zu bekommen, welche Menschen das sind, wo die herkommen, aus welchen Motiven sie handeln, da reichen unsere Daten allenfalls in Teilen. Oft sind unsere Informationen und die der Polizei sehr selektiv. Es macht deshalb Sinn, sowohl im Rahmen einer repräsentativ angelegten breiteren Erhebung als auch im Gespräch mit Betroffenen selbst etwas über die Motive und Beweggründe zu verstehen." Es gehe vor allem darum, Proteste mit weniger Gewalt ablaufen zu lassen.


Kaum Studienmaterial über Linksautonome


Sicher ist, ein einfaches Unterfangen wird das nicht. Die autonome Szene sei abgeschottet gegenüber Journalisten, Wissenschaft und staatlichen Instanzen, hat der Berliner Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke erfahren müssen.

 

Während wissenschaftliche Bibliotheken von Material über rechtsextreme Milieustudien geradezu überquellen, gebe es auf dem "Forschungsfeld Links" erhebliche Lücken: "Wir wissen über Linksextremismus wenig. Der Begriff ist diskreditiert." Das habe unter anderem mit der viel kritisierten Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus zu tun, beschreibt Jaschke die Abneigung seiner Kollegen, sich des Themas wissenschaftlich anzunehmen.

 

"Wir müssen Szenarien erkennen können"


Am Bedarf der Sicherheitsbehörden ändert das nichts. Die Präsidentin des niedersächsischen Verfassungsschutzes, die Politologin Maren Brandenburger, wäre dankbar für profunde sozialwissenschaftliche Erkenntnisse: "Für uns hätte es den Charme, dass wir mehr wissen würden über die Frage: Warum gehen junge Leute in die autonome Szene und warum tun andere es nicht? Wo gibt es an den Rändern des Linksextremismus möglicherweise Ausfransungen in die bürgerliche Zivilgesellschaft?"

Die Studie soll in zwei Jahren auf dem Tisch liegen. Die Kosten dafür werden im niedrigen sechsstelligen Bereich veranschlagt. Für BfV-Präsident Maaßen ist dieses Geld offenbar gut angelegt: "Es geht uns darum, dass wir prognosefähig sein können, dass wir Szenarien erkennen können. Und deswegen brauchen wir wissenschaftliche Unterstützung."