Die Fifa vor der WM – Das Endspiel

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Erstveröffentlicht: 
09.06.2014

Kein Ereignis auf der Welt begeistert und mobilisiert so viele Menschen wie die Fußball-WM. Doch das System der Fifa hat es zerstört: Durch totale Kontrolle, Korruption und kulturelle und soziale Ignoranz.

 

Die Vorzeichen sind längst unübersehbar, in den Brandsätzen und dem Tränengas oder im Protest auf den Straßen, in den Streiks, in den Diagnosen von Publizisten und Künstlern; nur auf was genau diese Vorzeichen verwiesen haben werden, das wird man erst wissen, wenn diese 20. Fußballweltmeisterschaft zu Ende gegangen sein wird. Dass so gut wie nichts mehr stimmt in Brasilien, das ließ sich allerdings schon allein daran ablesen, dass sogar Ronaldo, Mitglied des WM-Organisationskomitees und füllig gewordener Avatar brasilianischer Fußballmagie, die Versäumnisse der Regierung scharf kritisierte; oder daran, dass es ausgerechnet in dem Land, welches das Etikett „fußballverrückt“ wohl nie mehr loswerden wird, immer mehr Menschen gibt, die ihr Team scheitern sehen wollen, damit die Trauer übers Ausscheiden zum Brandbeschleuniger wird, der die ganze Wut über die sozialen Verhältnisse, über die gebrochenen Versprechen, über die Korruption im Land in Flammen setzt.

 

Und es würde auch jenseits von Brasilien niemand bedauern, wenn die Fifa von dieser Wut nicht verschont bliebe. Wie eine moderne Kolonialmacht auf dem Gebiet autonomer Staaten gebärdet sich der Weltfußballverband seit Jahrzehnten. Er lässt die WM ausrichten, er unterwirft sie seinem Regelwerk, das vorschreibt, welche Biersorten oder Snacks in den Sonderzonen um die Stadien verkauft werden dürfen. Die Fifa macht Auflagen, welchen Standards Stadien zu entsprechen haben, und sie ordnet an, dass auch bei Spielen zur Mittagszeit das Flutlicht einzuschalten sei. Durch ihre Auflagen nötigt sie Staaten zu Investitionen, deren volkswirtschaftlicher Nutzen nicht erkennbar ist. Bei dieser WM wird die Fifa, zu deren Auflagen selbstverständlich auch Steuerbefreiung im Ausrichterland gehört, rund drei Milliarden Euro Gewinn erzielen; Brasilien wird derweil rund elf Milliarden investiert haben, ohne dass die dringenden Probleme in den Sektoren Bildung, Gesundheit und Nahverkehr auch nur ansatzweise gelöst worden wären.

 

Jenseits von Südafrika


Keine WM stand schon vor ihrem Beginn derart auf der Kippe. Bereits beim Confed-Cup 2013 zeigte sich die gesellschaftliche, die soziale Dimension des Fußballs auf eine lange nicht erlebte Weise. Nicht nur Funktionäre, vor allem die Spieler der Seleção mussten sich zu den Massenprotesten verhalten, um nicht die Gunst jener zu verlieren, denen sie zwar die imaginäre Gemeinschaft einer Fußballnation stiften, ohne deren Unterstützung und projektive Energien sie jedoch nichts weiter als eine traurige Ansammlung kurzbehoster Millionäre wären.

Was in Südafrika noch funktioniert hatte, dank Präsenz und Aura eines Nelson Mandela, obwohl auch dort in einem wirtschaftlich instabilen Land Stadien errichtet wurden, die niemand über die WM hinaus benötigte und die heute, vier Jahre später, als Memento des Größenwahns in der Landschaft stehen - was dort gerade noch mal gutging, das geht in Brasilien nicht mehr. Bislang gab es ja vor Weltmeisterschaften kaum ernsthafte Verwerfungen oder soziale Proteste, weil die Turniere entweder in prosperierenden Ländern wie den Vereinigten Staaten (1994), Frankreich (1998), Japan und Südkorea (2002) oder Deutschland (2006) stattfanden oder weil autoritäre Regime und Militärdiktaturen wie 1978 in Argentinien eine der Fifa sehr genehme Friedhofsruhe garantierten.

 

Im Tunnel zum Hotel

 

Heute dagegen erleben wir eine besondere, tendenziell explosive historische Konstellation. Sie hat auch dazu geführt, dass Begeisterung und Vorfreude nicht mehr wachsen, je näher das Turnier rückt. Und diese gedämpfte Stimmung hat, dies nur am Rande, wenig mit der undurchsichtigen Verfassung der deutschen Mannschaft zu tun. Eine selbstverständliche, wenn man so will: eine fundamentale Voraussetzung des Fußballs ist zutiefst erschüttert. Elias Canetti hat in „Masse und Macht“ ein treffendes Bild für sie gefunden, als er schrieb, im Stadion wende man dem Alltag den Rücken zu - was heute natürlich auch, mehr oder minder, für das Milliardenpublikum vor den Fernsehgeräten gilt.

 

Bei der WM in Brasilien ist diese Haltung für jeden, der noch halbwegs bei Bewusstsein ist, unmöglich geworden. Und man muss sich deshalb auch fragen, wovon genau wir reden, wenn wir von dieser WM reden. Wer vom „jogo bonito“ schwärmt und glaubt, all die sepiagetönten Mythen von Pelé, Garrincha und dem Zauberfußball hervorkramen zu sollen, der kann von Polizeieinsätzen in den Favelas nicht schweigen; wer dem ewigen Duell Italien gegen England in Manaus entgegenfiebert, der sollte nicht bloß wissen, dass in Manaus kein Erstligist spielt und der Stadionbau dort sinnloser war als das Opernhaus in Iquitos, für das Werner Herzog in seinem Film „Fitzcarraldo“ ein Schiff über einen Berg ziehen ließ; er sollte auch wissen, dass Englands Spieler in einem Hotel in Rio wohnen, von dem aus der einzige Weg zum Flughafen durch einen Tunnel führt, den auch brasilianische Aktivisten wie Polizisten gut kennen.

 

Ebenso wenig kann man der Frage ausweichen, wie die durchgreifende Ökonomisierung des Fußballs und die Konstruktion einer stromlinienförmigen, keimfreien Stadionwelt das Spiel selbst erfasst haben. Es gibt, unübersehbar und unabhängig von Systemen, auf dem Rasen das eine oder andere Pendant: den brutalen (Selbst-)Optimierungsdruck, den Trend zur Uniformität der Spielweisen, der dazu geführt hat, dass sich der Fußball Sportarten wie Basketball oder Handball angeglichen hat, die viel stärker von einem Repertoire einstudierter Spielzüge leben.

 

Das ist nun keine dieser früher so beliebten Analogien, in denen Netzers Pässe und das offensive Spiel den Geist der Brandt-Ära versprüht haben sollten, wogegen Berti Vogts’ Truppe die Fortsetzung von Kohls Politik mit fußballerischen Mitteln gewesen sei. Was, zum Beispiel, sollte der Ballbesitzfußball à la Guardiola verkörpern im Kontrast zu Mourinhos ausgefeilten Defensivstrategien? Und was Letzterer im Vergleich zum überfallartigen Umschaltspiel nach laufintensivem Pressing, wie es Diego Simeone bei Atlético Madrid einstudiert hat?

 

Stranguliertes Spiel

 

Klar wäre es verführerisch, im „Strangulationsfußball“ (Bert Rebhandl) der Barcelona-Schule ein übersteigertes Kontrollbedürfnis zu entziffern, das auf unheimliche Weise mit unserer Zeit der gläsernen User und der Hypertransparenz korrespondiert - und in Beton-Defensive und hochtourigem Umkehrspiel den trotzigen Impuls der Verweigerung. Doch jenseits der taktischen Feinheiten, welche vor allem diejenigen beherrschen müssen, die auf dem Rasen stehen, ist jedes Fußballspiel ja immer auch eine Erzählung, die nicht nur im Stadion spielt, sondern auf Bildschirmen und Endgeräten zwischen Finnland und Feuerland. In dieser Erzählung werden gerade bei Weltmeisterschaften Drama und Spezialeffekte erwartet wie von einem Hollywood-Blockbuster: Kartenflut und Rudelbildung, Verlängerung mit Elfmeterschießen, tragische Gestalten, Tränen und schweißverklebte Heroen. Duelle einander taktisch neutralisierender Teams sind dagegen beim großen Publikum mittlerweile so mäßig beliebt wie Arthouse-Filme.

 

So werden die Ordnung, welche die Trainer von ihren Teams verlangen, und die Dramatik, welche die Mehrheit des Publikums erhofft, auch diesmal wieder im Clinch miteinander liegen. Das Reglement wird spätestens ab der K.-o.-Phase dafür sorgen, dass die internationale Uniformität der Spielanlage keine Langeweile produziert. Und solange man nicht weiß, ob die Spieler in ihrer abgeschirmten Kunstwelt nicht doch jäh aufgestört werden durch den Einbruch der brasilianischen Wirklichkeit, so lange kann man nur spekulieren über diese einmalige ökonomisch-politisch-sportliche Konstellation, welche diese WM in Brasilien prägen wird. Sie könnte eine Markierung sein, eine Wasserscheide, welche Geschäftsgebaren und Politik der Fifa endgültig an ihre Grenzen stoßen lassen.

 

Denn was nach Brasilien, was immer dort passieren wird, kommen könnte, ist ein einziges Gruselszenario. Russland 2018 - eine WM in einer Pseudo-Demokratie, wo Kritikern und Protestierenden der Mund gestopft wird. Qatar 2022 - ein autoritäres Regime ohne Demokratie und mit viel Geld, das, in die richtigen Hände gegeben, vermutlich auch für die Vergabe der WM gesorgt hat. Die eilig signalisierte Rückzugsbereitschaft einzelner Funktionäre, erst recht der öffentliche Druck zur Neuausschreibung im Falle nachgewiesener Korruption könnten die Fifa in einen Strudel reißen, den sie kaum unbeschädigt überstehen dürfte, im Showdown mit den Schadenersatzforderungen von Qatars Potentaten.

 

Big Data statt Realität

 

Was einen aber spätestens in Qatar erwarten würde, im milden Golf-Winter, das wäre die endgültige Verwandlung des internationalen Fußballs in einen Themenpark - in eine jener durchorganisierten Vergnügungsveranstaltungen, in denen Menschen sich durch einen scripted space bewegen, der ihnen in Zeiten von Big Data ersetzt, was wir mal ganz arglos „die Wirklichkeit“ genannt haben. Heute ist diese, zumindest im Fußball, schon kaum noch vom Playstation-Geschehen zu unterscheiden, wo die Spieler mit ihren eigenen Avataren spielen. Und Qatar böte, ebenso wie Russland und im Gegensatz zu demokratischen Staaten, den Vorteil, missliebige Minderheiten unterdrücken und sozialen Protest mit Polizeieinsatz ersticken zu können, ohne dass man um die Folgen fürchten müsste. Die Olympischen Winterspiele in Sotschi haben da einschlägiges Anschauungsmaterial geliefert.

 

Womöglich ist also Brasilien das Ende der Fußballweltmeisterschaften, wie wir sie kennen, und nach all den Jahrzehnten, die mich der Fußball bewegt, fühle ich mich nicht so schlecht bei dem Gedanken. Gibt es einen besseren Ort dafür als Brasilien? Doch der Fußball in seiner immer neuen, radikalen Gegenwärtigkeit war nie ein gutes Spekulationsobjekt für Science-Fiction-Szenarien. Sicher ist bloß: Wenn Fifa und WM verschwinden, wird das den Fußball nicht zerstören. Er rollt einfach weiter, in unscheinbaren Vereinen am Stadtrand, auf staubigen Sandplätzen, in den Käfigen zwischen tristen Wohnblocks. Und wenn man sich daran erinnert, dann kann man sich auch fast wieder ein wenig freuen, auf den kommenden Donnerstag, 22 Uhr, mitteleuropäischer Zeit, wenn Brasilien gegen Kroatien spielt.