Am Samstag, den 5. April 2014 planen schon zum dritten Mal mehrere christlich-fundamentalistische, homophobe, heterosexistische und offen rechte Organisationen, Parteien und Einzelpersonen eine Demonstration in Stuttgart gegen die Thematisierung von Vielfalt in Bezug auf partnerschaftliche Lebensentwürfe, sexuelle Vielfalt und Identitäten – jenseits der Mann-Frau-Beziehung (Bildungsplanreform 2015).
Alles Nazis oder was?
Wir sind gegen die Proteste gegen den Bildungsplan. Doch
warum?
Einige bisherige Berichte (Artikel bei linksunten)
versteiften sich auf das Thema Neonazis bei den Demonstrierenden
gegen den Bildungsplan. Hier halten wir eine differenziertere
Betrachtung für notwendig.
Neonazis finden zwar klare
Anknüpfungspunkte, sind aber nicht die Initiator*innen und stellen
auch nicht die Mehrheit der Teilnehmer*innen der Proteste. Die
Teilnehmer*innen rekrutieren sich vielmehr aus dem gesamten
konservativen und reaktionären Spektrum: Christliche Fundis,
PI-News1,
Konservative Aktion, AfD, etc. Auch die Russisch-Orthodoxe Gemeinde
scheint eine relevante Rolle einzunehmen. Unseres Erachtens ist
Heterosexismus und Homophobie ein zentraler Antrieb für die Proteste
der Bildungsplan-Gegner*innen, auch wenn sie selbst es leugnen und
“nur um das Wohl ihrer Kinder besorgt sind”.
Hier besteht
immer die Gefahr: Wenn unsere Kritik zu sehr auf einzelne
Akteur*innen abzielt, gibt man den restlichen Demonstrierenden den
Raum, sich von diesen Akteur*innen inhaltlich zu distanzieren und
ihre “besorgte Eltern”-Scharade weiter zu spielen.
Um an dieser Stelle entgegenzuwirken werden wir uns im Folgenden grundlegend mit den gesellschaftlichen Mechanismen, die hinter den Bildungsplangegner*innen stehen, auseinandersetzen.
Dazu wollen wir gerne etwas weiter ausholen und die ständig stattfindende unterbewusste Kategorisierung der menschlichen Wahrnehmung in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Diskriminierungsformen setzen. Wir erklären die Schlagworte Heteronormativität und Heterosexismus. Erst darauf aufbauend wollen wir die Diskriminierung durch die Bildungsplangegner*innen aufgreifen.
Sind wir neutral?
Wir Menschen aus dem westlichen Europa halten uns gerne für aufgeklärt und objektiv. Was auch immer wir in unserem Alltag tun, wenn wir durch die Straßen laufen und andere Menschen wahrnehmen, beim Fernsehen, im Kino… – überall wo wir andere Menschen erblicken oder mit ihnen in Kontakt treten, nehmen wir von uns an, dass wir in einer relativen Unvoreingenommenheit anderen Menschen gegenüber leben. Sicher, mal gefällt uns eine Frisur nicht oder wir mögen bestimmte Personen nicht besonders. Aber ansonsten sind wir neutral. Oder nicht?
Sozialisation und unterbewusste Kategorisierung
Dabei ist uns meist gar nicht bewusst, dass unser Gehirn
ununterbrochen Menschen in Kategorien einteilt:
jugendlich,
weiblich, von hier (vermutlich deutsch), dünn, trendy, attraktiv,
oder: männlich, dick, mittleren Alters, südländisch, bieder,
unattraktiv, vermutlich arm.
Ob im Sinne einer Beschränkung auf
das Wesentliche oder aus Zeitmangel angewendet ermöglichen uns
Kategorien und Klischees als vereinfachte und verallgemeinerte
Vorstellungen über Menschen zunächst einmal Orientierung,
Sicherheit und dienen einer schnellen Kommunikation.
Nun wäre
theoretisch einer unbewussten Kategorisierung anderer Menschen in
unserer Umgebung nichts vorzuwerfen, wäre sie neutral und bei Bedarf
flexibel.
Ist sie aber nicht.
Wir nehmen zwar eine eigene
Neutralität an, in Wirklichkeit aber wachsen wir in einer von
Ungleichheit bestimmten Gesellschaft auf und verinnerlichen Rollen
und Diskriminierungsformen. Was ist normal, was ist anders, wer/was
sind “wir”, wer/was sind “die anderen”. Dieses Wissen ist ein
gesellschaftlicher Code, den viele Menschen seit ihrer frühesten
Jugend verinnerlichen und weitergeben. In der Familie, in
Freundschaften und Beziehungen, über Medien, Politik,
Wissenschaften, Bildung und so weiter.
Sozialisation bezeichnet
die Verinnerlichung solcher gesellschaftlicher Normen. Über
Sozialisation lernen wir in Kategorien zu denken, die in dem
jeweiligen Zusammenhang und der (Entstehungs-)Geschichte unserer
gesellschaftlichen Umgebung entstanden sind. Miteinbezogen werden
dabei unterschiedliche Kategorien, die den Status und die Anerkennung
von Menschen in einer Gesellschaft bestimmen, zum Beispiel:
Geschlecht, Hautfarbe, Kultur, soziale Schicht, Background,
Behinderung/Nicht-Behinderung, Alter,…Diese Kategorien sind von
Menschen gemacht und haben reale Auswirkungen auf die betroffenen
Personen.
Der heutige (westeuropäische) gesellschaftliche
Ist-Zustand privilegiert Träger*innen bestimmter Eigenschaften
(z.B.: männlich, heterosexuell, weiß, deutsch, gut gekleidet, nicht
arm). Alle Menschen, die innerhalb dieser Gesellschaft sozialisiert
wurden (und damit diese “Privilegien” als positiv und normal
verinnerlicht haben), streben nach diesen Eigenschaften. Wenn
Menschen diesen gesellschaftlichen “Idealzustand” nicht erfüllen
(können oder wollen), werden sie als “anders” kategorisiert.
“Anders” meint nicht nur abweichend vom gesellschaftlichen
Ist-Zustand, sondern wird gleichzeitig auch negativ bewertet.
Gesellschaftlicher Ausgangspunkt
Wir leben in einer Gesellschaft, in der als „anders“
wahrgenommene Menschen – Menschen die nicht den Wertvorstellungen
der dominierenden Mehrheitsgesellschaft entsprechen – Ausgrenzung,
Nicht-Anerkennung, und unterschiedliche Formen der Gewalt
erfahren.
Unterdrückungsmechanismen wie beispielsweise
gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung gehen mit den
bestehenden Hierarchien einher, die das Bild unserer Gesellschaft
prägen. Sie führen zu Ungleichheit, untermauern bereits bestehende
Diskriminierung und erneuern sich ständig selbst. Dieses ständige
Erneuern passiert nicht von allein, sondern wird von Menschen bewusst
oder unbewusst durchgeführt. Anstatt bestehende Ungleichheit und
Hierarchien in Frage zu stellen, grenzt man sich gegen andere
Menschen ab und diese aus. Besondere Benachteiligung, Gewalt und
Herabwürdigung erfahren Menschen, die aufgrund von Äußerlichkeiten
und anderen Merkmalen, ihrer Kultur, (angenommenen) Herkunft,
sexueller Orientierung, Behinderungserfahrung, Alter und/oder
Geschlecht diskriminiert werden.
Diskriminierung
Ein wesentlicher Bestandteil von Diskriminierung ist die
Zusammenfassung und Kategorisierung von Menschen zu Gruppen und der
damit verbundenen Unterstellung bestimmter Eigenschaften. Die weit
verbreitete Einstellung und Akzeptanz von Vorurteilen, die Menschen
betrifft, diese in ihrem Handeln einschränkt und somit reale
Auswirkungen auf deren Alltag hat, wird Diskriminierung genannt.2
Es
gibt viele verschiedene Formen der Diskriminierung, die sich
gegenseitig überschneiden und bedingen. Gemeinsam haben sie, dass
die betroffenen Menschen aufgrund von bestimmten Merkmalen oder ihrer
Gruppenzugehörigkeit benachteiligt oder ausgegrenzt werden.
Die
als „anders“ wahrgenommene Menschen, jene, die nicht in die
allgemein gesellschaftlich anerkannten Wertvorstellungen passen, sind
täglich mit Diskriminierung konfrontiert. Gewalttätig ist
Diskriminierung immer und kann tiefgreifende Auswirkungen auf die
körperliche, seelische und geistige Unversehrtheit und die
Entfaltungsmöglichkeiten der betroffenen Menschen haben.
Wir
sehen daher drei Ebenen, auf denen sich die Gewalt durch
Diskriminierung manifestiert.
1. Auf individueller Ebene: Hier
wird Diskriminierung beispielsweise durch verbale Gewalt in Form von
Vorurteilen, Witzen und Bemerkungen ausgedrückt, oder durch direkte
körperliche Gewalt.
2. Auf gesellschaftlicher Ebene: etwa in
Form von Ausgrenzung und einem allgemein anerkannten Wissen darüber,
was natürlich und was unnatürlich ist, wer zu dem “wir” und wer
zu “den anderen” gehört; ebenso durch psychische Gewalt wie
Nicht-Anerkennung einer Identität und (Be-)hinderung einer
persönlichen, individuellen Entfaltung.
3. Auf struktureller und
institutioneller Ebene: Die Diskriminierten erfahren keine
gleichberechtigte Beteiligung/ Mitgestaltung/ Mitwirkung/
Mitbestimmung an gesellschaftlichen Ressourcen, in sozialen,
politischen, materiellen, kulturellen Bereichen.
Heteronormativität und Heterosexismus als Diskriminierungsform
Als Heteronormativität wird ein Geschlechtersystem bezeichnet,
bei dem nur zwei Geschlechter, nämlich Mann und Frau,
gesellschaftlich zur Norm erhoben werden.
Dabei wird das
jeweilige Geschlecht (Mann oder Frau) sowohl mit den gesellschaftlich
Rollenvorstellungen von Männern und Frauen verbunden, als auch mit
der heterosexuellen Orientierung. Das heißt, dass es bestimmte
gesellschaftlich anerkannte Vorstellungen darüber gibt, welche
Rollen jeweils Männern und Frauen entsprechen, welche (eher) nicht,
und dass die einzige natürliche Beziehungsform eine heterosexuelle
Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau ist.
Heteronormativität bestimmt somit, was als „normale“ Sexualität gilt und ist gleichzeitig mit den von vielen Menschen verinnerlichten Normen und Vorstellungen bezüglich Körper, Geschlecht, Charakterzuschreibungen, Familie, … verknüpft. Die daraus entstehende Diskriminierungsform wird als Heterosexismus bezeichnet. Sie lässt keine weiteren Sexualitäten und Geschlechter zu.
“Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber…”
Wie bereits in der Einleitung erwähnt werfen wir den Bildungsplangegner*innen heterosexistische und homophobe Diskriminierung vor. Unseres Erachtens ist Heterosexismus und Homophobie ein zentraler Antrieb für die Proteste der Bildungsplan-Gegner*innen, auch wenn sie selbst es leugnen und sich als “besorgte Eltern” darstellen.
Die heteronormative Form des Zusammenlebens (Vater, Mutter, Kinder) findet selbstverständlich und selbstbewusst im öffentlichen Raum statt. Andere Konzepte des Zusammenlebens hingegen haben sich im Privaten abzuspielen – und dort auch zu bleiben. Dieses Messen mit zweierlei Maß zeigt sehr deutlich die diskriminierende Haltung der Bildungsplangegner*innen. Das Verschweigen und die Nicht-Anerkennung bestimmter Identitäten ist auch in anderen Bereichen (z.B. Rassismus) ein machtvolles Ausgrenzungs- und Unterdrückungsinstrument.
Die Angst zu schüren, durch die bloße Erwähnung alternativer
Sexualitäten und Geschlechterrollen seien Kinder und Familie
bedroht, gründet auf Vorurteilen und falschen Unterstellungen, sie
ist heterosexistisch und homophob.
Dieser Verbreitung diffuser
Ängste und Unterstellungen wollen wir uns entgegenstellen und für
gegenseitige Wertschätzung und eine selbstbestimmte Sexualität
eintreten.
Wir haben uns dagegen entschieden der Argumentation der
Bildungsplangegner*innen weiteren Raum in unserem Text zu geben.
Unsere Kritik
Wir kritisieren die Vorstellung einer natürlich gegebenen Heterosexualität von Mann und Frau und die damit verbundene Heteronormativität in der Gesellschaft.
Wir gehen davon aus, dass Vorstellungen von Geschlecht und
Sexualität immer in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden
sind und aus diesem entstehen.
Dabei werden diese Annahmen durch
Medien, Literatur, Musik, … und durch Institutionen wie die Kirche,
Schule, (Teile der) Wissenschaft,… als angebliche Wahrheit
untermauert.
Diese konstruierte Annahme heterosexueller Mann/ heterosexuelle Frau als einzig gültige Lebensweise empfinden wir als unmenschlich und diskrimierend, da sie aus unserer Sicht nicht der menschlichen Vielfalt gerecht wird.
Bildungsplan
Wir sind uns natürlich der Ironie der seltsamen Ausgangslage bewusst: Wir unterstützen und verteidigen eine Initiative der Landesregierung. Klar ist, dass wir nicht grundsätzlich gut finden, was die Regierung treibt und dass wir den Bildungsplan nur partiell unterstützenswert finden.
Uns ist es jedoch wichtig ein klares Zeichen gegen die reaktionären Kräfte zu setzen, die sich da zusammentummeln, um gegen den Bildungsplan vorzugehen.
Unsere Ansprüche an ein Bildungssystem sind sicherlich andere als
die des Staates.
Aber auch das jetzige Bildungssystem sollte
neben vielem weiterem den Menschen die nötigen Koordinaten mitgeben
an denen sie sich orientieren können und auch Kritik- und
Toleranzfähigkeiten vermitteln. Darüber hinaus ist es wichtig, dass
jungen Heranwachsenden Wissen und Mittel an die Hand gegeben werden,
die sie zur eigenbestimmten unvoreingenommen Selbsterkenntnis eigener
Sexualität befähigen. An dieser Stelle begrüßen wir den Ansatz in
den Arbeitsversionen des neuen Bildungsplans über alternative Formen
bezüglich Sexualität und Geschlecht aufzuklären.
Das Schweigen
über oder gar Tabuisieren von bestimmten Formen der Sexualität oder
Lebensentwürfen steht einer gesunden selbstbestimmten Entwicklung
junger Menschen und ihrer Sexualität entgegen.
Aufklärungsarbeit
an Schulen ist also keine "Propaganda”, sondern dient dem
ureigenen Interesse aller Kinder.
Was wir wollen
Wir lehnen Hierarchien und die damit einhergehenden
Unterdrückungsmechanismen und Diskriminierungen ab. Um diese
abschaffen zu können, müssen wir diese erkennen und reflektieren.
Wir wollen Hierarchien bekämpfen, die die Menschen in einer
Gesellschaft nach Macht und Nicht-Macht, in höhere und nieder
Statusgruppen einteilen.
Hierzu ist es nötig, aktiv zu werden. Dazu gehört auch das Hinterfragen der eigenen Rollen, genaues Hinhören, aufmerksam machen, sich in den Weg stellen, Schreiben, es gibt ganz viele Möglichkeiten… jede*r kann etwas tun!
Ziel ist es, zu einem anderen Umgang der Menschen untereinander zu kommen – jenseits von Diskriminierung, Unterdrückungsmechanismen und Machtstrukturen.
Wenn wir eine Gesellschaft anstreben, in der Vielfalt das gesellschaftliche Bild prägt und unterschiedliche Lebensentwürfe gleichberechtigt nebeneinander stehen können, hat in dieser Form des Pluralismus Diskriminierung keine Berechtigung. Da Diskriminierung immer gewalttätig ist – auf die ein oder andere Weise – darf ihr kein Raum gelassen werden um sich auszubreiten.
Deshalb stellen wir uns dieser Diskriminierung entschlossen und kreativ entgegen. Auf der Straße, in unserem Alltag und in den Köpfen.
Kommt am 5.4. um 14 Uhr zum Stuttgarter Karlsplatz anlässlich der Proteste gegen die nächste Demonstration der Bildungsplangegner*innen. Bringt Freund*innen mit und beteiligt euch kreativ und lautstark am Protest gegen die geplante Demo! Achtet auf weitere Infos (siehe auch https://linksunten.indymedia.org/de/node/109903 ). Weitere Demonstrationen jeden ersten Samstag im Monat sind zu erwarten.
Libertäres Bündnis Ludwigsburg
1 Politically Incorrect-News: rechtes, reaktionäres Internetportal
2 Auch auf anderen Wegen wie beispielsweise institutionelle Gewalt kann Diskriminierung entstehen