In Winterbach verübten Neonazis eine rassistische Hetzjagd. Derzeit findet in Stuttgart der zweite Prozess gegen sie statt. Zum ersten Jahrestag der Aufdeckung der rechtsextremen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) wurden die sogenannten »Pannen« und »Versäumnisse« der Sicherheitsbehörden noch einmal pflichtschuldig bedauert. Die Schweigeminute in Erinnerung an die zehn Mordopfer der NSU übertönte das Versprechen, mit »neuer Entschlossenheit« gegen Rechtsextremismus vorzugehen. Doch wie wenig sich im Umgang mit rechtsextremen Straftaten tatsächlich verändert hat, zeigt derzeit das zweite Strafverfahren vor dem Stuttgarter Landgericht zur Aufklärung des Brandanschlags auf eine Gruppe junger Männer in Winterbach.
Im April 2011 hatten einige Freunde, deren Familien türkischer und italienischer Herkunft sind, auf einem Gartengrundstück gegrillt. Gleichzeitig waren auf einer benachbarten Streuobstwiese 70 Angehörige der rechtsextremen Szene zu einer Geburtstagsfeier zusammengekommen. In der Nacht riefen einige zur Hetzjagd auf die »Kanaken« auf. Die Angegriffenen wurden geschlagen und getreten, manche stürzten beim Versuch zu entkommen und erlitten schwere Verletzungen. Fünf der Gejagten verschanzten sich vorübergehend in einer Holzhütte des Gartengrundstücks, die jedoch von den Rechtsextremen bereits in Brand gesteckt wurde. Aufzeichnungen des Notrufs dokumentierten vor Gericht die Todesangst der Eingeschlossenen, die erst im letzten Moment die Flucht wagten und sich aus der niederbrennenden Hütte retteten.
Im ersten Prozess konnte die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage wegen versuchten Mordes nicht aufrecht erhalten werden, weil keinem der Angreifer eine direkte Beteiligung an der Brandlegung nachgewiesen werden konnte. Nur zwei von 40 Tatverdächtigen gaben zu, auf dem Grundstück mit der brennenden Hütte gewesen zu sein. Sie wurden im Frühjahr wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu je zwei Jahren und fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Anrechnung ihrer zehnmonatigen Untersuchungshaft verbüßen die beiden ihre Reststrafe zurzeit im offenen Vollzug. Der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen erklärte damals den Ausgang des Verfahrens für »extrem unbefriedigend«. Die Zahl derer, die aufgrund einer »gruppenspezifischen Menschenfeindlichkeit« bereit seien, schwere Straftaten zu begehen oder zu decken, sei erschreckend. Erschreckend war aber auch, dass die Polizei von dem Treffen der Rechtsextremen wusste. Man habe den Teilnehmern zuvor »klipp und klar deutlich gemacht, dass sie unter Beobachtung stehen«. Auf die Nachfrage, warum die Polizei dann im entscheidenden Moment nicht an Ort und Stelle war, erklärte Kripochef Thomas Schöllhammer in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung lapidar: »Die Tat war nicht geplant, dass die Lage eskalieren würde, war nicht vorhersehbar.«
Die Gemeinden des Rems-Murr-Kreises, wenige Kilometer östlich von Stuttgart, stehen jedoch wegen ihrer aktiven rechtsextremen Szene seit Jahren in den Schlagzeilen. Eine Regionalstudie der Universität Tübingen hat unter dem Titel »Rechtsextremismus und sein Umfeld« bereits 2008 die ausgeprägte rechtsextreme Orientierung dokumentiert und gewarnt, dass sich die verschiedenen rechten Grppen im Landkreis von ihrer Umgebung »eher anerkannt fühlen«, »sie sind offenbar gut in ihr Gemeinwesen integriert.«
Dieser Umstand zeigt sich nun auch im Folgeprozess »Winterbach 2«, dem gleichfalls ein unbefriedigender Ausgang droht. Seit August stehen elf Männer und eine Frau wegen ihrer mutmaßlichen Tatbeteiligung vor Gericht. Da die Brandstiftung jedoch weiterhin keinem von ihnen konkret zugeordnet werden kann, kann auch nicht wegen versuchten Mordes verhandelt werden. Den Angeklagten werden lediglich gefährliche Körperverletzung, Falschaussagen, Meineid und im Falle der jungen Frau auch Strafvereitelung vorgeworfen. Katharina B. war die Gastgeberin der als private Geburtstagsfeier deklarierten Zusammenkunft. Bei ihr sollen Kontakte zwischen den einheimischen und den von auswärts, unter anderem aus dem Saarland, angereisten Rechtsextremen hergestellt worden sein. Die Tochter eines Unternehmerpaars aus der Nachbargemeinde Schorndorf soll bereits in der Vergangenheit größere Neonazi-Partys gefeiert haben, anlässlich ihres 18. Geburtstags soll es dabei auch zu Verhaftungen gekommen sein.
Zum Auftakt des zweiten Prozesses hat nur einer der beschuldigten Männer gestanden, sich an der Hetzjagd beteiligt und »im Wutrausch« eine Person verprügelt zu haben. Davide C. hat einen italienischen Pass und bezeichnet sich stolz als »aufrechten Faschisten«. Er belastete außerdem den Besitzer des Grundstücks, auf dem sich die Rechtsextremen trafen. Der 37jährige Christian W. war früher Pressesprecher des örtlichen NPD-Kreisverbands und ist einschlägig vorbestraft. Der Beschuldigte behauptet jedoch, zur Tatzeit seinen Rausch ausgeschlafen zu haben. Auch alle weiteren Angeklagten schweigen oder leugnen, sich in der Nähe der brennenden Hütte aufgehalten zu haben. Nur wenige Angeklagte bekennen sich zu ihrer rechtsextremen Gesinnung. Die übrigen behaupten etwa, sich wegen ihrer Haarwirbel Glatzen rasiert zu haben, oder erklären bei Hausdurchsuchungen gefundenen SS-Devotionalien mit ihrem Interesse für »Antiquitäten«.
Der Prozess erfährt bisher nur in der Lokalpresse größere Aufmerksamkeit, obwohl allein die Namen der rechten Szeneanwälte auf die überregionale politische Bedeutung des Verfahrens hinweisen. Zu den Verteidigern gehören die beiden ehemaligen Rechtsrocker Alexander Heinig und Steffen Hammer. Letzterer sang noch für die Band »Noie Werte«, als die NSU-Mörder mit deren Songs ihr Bekennervideo unterlegten. Die einzige Angeklagte im Prozess wird von Nicole Schneiders vertreten. Sie ist auch die Anwältin von Ralf Wohlleben, der als wichtigster mutmaßlicher Unterstützer des NSU-Trios wegen Beihilfe zum Mord unter Anklage steht. Schneiders kennt ihn aus ihrer Studienzeit in Jena. Sie war damals Mitglied der NPD und Wohlleben Vorsitzender ihres Kreisverbands. Nach seinem Aufstieg in der NPD Thüringen soll Wohlleben enge Kontakte zu baden-württembergischen Neonazis unterhalten haben, insbesondere zur rechten Musikszene, die im Rems-Murr-Kreis in den vergangenen Jahren regelmäßig Konzerte veranstaltete.
Im Stuttgarter Verfahren spielt die Verbindung der Angeklagten zur Neonaziszene keine große Rolle, eventuelle Verbindungen zum Rechtsterror werden nicht thematisiert. Stattdessen werden nun die Opfer verdächtigt, den Angriff provoziert zu haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Sachbeschädigung, Falschaussage und Körperverletzung. Dass einem der Angreifer kurz vor dem Brandanschlag ein Veilchen zugefügt worden sein soll, wollten allerdings nicht einmal seine hierzu befragten Kameraden bestätigen. Für Rechtsanwalt Walter Martinek, der für mehrere Opfer die Nebenklage vertritt, sind die Vorwürfe »an den Haaren herbeigezogen«. Seine Mandanten litten bis heute unter Angstzuständen. Die Ermittlungen seien empörend und wirkten einschüchternd. An den für Mitte November einberufenen Verhandlungstagen sollen endlich wieder die Angeklagten im Mittelpunkt stehen. Auch einer der beiden im ersten Prozess Verurteilen soll nochmals aussagen. Gleichzeitig bestätigte das Gericht, dass alle Prozessbeteiligten zu so genannten »Verständigungsgesprächen« zusammenkommen. Der Deal könnte darin bestehen, den Angeklagten bei Aussagen zum Tathergang, »die über den eigenen Tatbeitrag hinausgehen«, Strafmilderung und gegebenenfalls auch Bewährungsstrafen zuzusichern.