Am vergangenen Samstag versammelten sich in Russland und in der Ukraine mehrere Tausend Menschen unter dem Motte „Für freie Wahlen“ zum Protest gegen die Wahlfälschungen bei den Wahlen zu den regionalen und der föderalen Parlamenten. Bei der größten Kundgebung in Moskau gingen 100 bis 120 Tausend Menschen auf die Straße und setzten ein beeindruckendes Zeichen gegen das regierende Establishment. An den Protesten beteiligten sich sehr verschiedene Spektren. Es kamen schwerreiche Oligarchen, wie Mikhail Prochorov, rausgeschmissene Minister, wie Aleksej Kudrin, eine erst durch Putins gelenkte Demokratie zu einem gewissen Wohlstand gekommene Mittelschichtjugend, ganz besonders motivierte Nationalist_innen und emanzipatorische Aktivist_innen.
Auf der Moskauer Großveranstaltung gab es erneut einen größeren anarchistischen Block. Trotz Repressionen der Sicherheitsbeamt_innen, die mehrere Aktivist_innen für mehrere Stunden festhielten, konnte eine „Freie Tribüne“, also ein offenes Mikrofon, durchgeführt werden. Wie Avtonom berichtet wurde das Megafon der Anarchist_innen rege genutzt. Die Redner_innen waren sich offenbar darin einig, daß die exponierten Führer_innen des Protestes gegen die Wahlfälschung in erster Linie daran interessiert sind eigene Machtinteressen durchzusetzen. Freiheit, Emanzipation und Gleichberechtigung für alle interessiert diese wenig.
Während der Großkundgebung sprach Aleksej Gaskarov, ein Antifaschist, der im Zuge der Auseinandersetzungen um den Wald in Khimki verhaftetet wurde. Seine Rede, in der er darauf hinwies, daß die Menschen die Freiheit nur jenseits vermeintlich „demokratischer Prozeduren“ selbst erkämpfen könnten, wurden von Nationalist_innen massiv gestört. Außerdem suchten sie die Auseinandersetzungen mit Antifaschist_innen, die nahe der Rede-Tribüne standen. Sie beließen es dann aber doch beim Pfeifen und verbalen Beschimpfungen. Die Nationalist_innen versuchten aber, wie es Djomushkin angekündigt hatte, die Kundgebung größtenteils zu stören, oder, wie sie es ausdrückten, die „nationalistische Flanke“ zu bilden. Hierzu postierten sie sich schon früh mit imperialen Flaggen in der Nähe der Bühne.
Militante Nazis und Autonome Nationalist_innen waren ebenfalls anwesend. Sie hatten versucht in der Abstimmung über die Redner_innen-Liste ihren Kandidaten Maksim „Tesak“ Marcinkevich auf die Bühne zu hieven und waren zunächst erfolgreich. Tesak wurde durch sein Portal Format-18, auf dem Videos von Übergriffen auf Migrant_innen, Obdachlose und andere marginalisierte Menschen oder Punks und Antifaschist_innen veröffentlicht wurden, und seine seine gleichnamige Nazi-Gruppe bekannt. Sein Auftritt konnte verhindert werden. Er wurde durch die Organisator_innen kurzfristig gestrichen. Mit dem antikaukasischen Rassisten, Blogger, nationalistischen Aktivisten und neuem Helden der Bewegung gegen Putin Aleksej Navalny hatten die Organisator_innen aber weniger Probleme. Aber Tesak, der sich immer wieder positiv auf Hitler und den Nationalsozialismus bezog, offen Rassismus propagierte und zu xenophoben Übergriffen auf Migrant_innen aufrief, war dann wohl doch zu viel.
Nach Abschluß der Großkundgebung führten Anarchist_innen eine kleine Sponti mit mehreren Dutzend Teilnehmer_innen durch. Danach kam es in der Metrostation „Krasnye Vorota“ zu einem Übergriff auf eine Gruppe abreisender Anarchist_innen. Zwei Nazis, unter ihnen Andrej „Ded“, wollten den Aktivist_innen die Fahnen abnehmen, flüchteten aber, als sie die Polizei sahen und wurden darauf hin festgenommen (siehe Video). Drei Anarchist_innen wurden ebenfalls zur Personalaufnahme festgehalten. Der Nazi Andrej „Ded“ gehört zum Dunstkreis um die Kampfsporttruppe und National-Socialist Hardcore-Band OHS (Outlaw Hardcore Squad). Außerdem ist er Mitbegründer der selbsternannten Bürgerrechtsorganisation „Phönix“ (Pravozashhitnaja Organizacija Feniks). Hintergrund dieser Hilfsorganisation für inhaftierte Nazis ist die Freundschaft von „Ded“ mit „Tesak“. Weitere prominente militante Nazis, die „Phoenix“ unterstützt, sind die Nazi-Terrist_innen und Mörder_innen von Stanislav Markelov und Anastasija Baburova Nikita Tichonov und Evgenija Khasis. Offenbar gibt es außerdem gute Kontakte zu Autonomen Nationalist_innen.
Der Protest beruft sich zunehmend sowohl personell als auch inhaltlich auf nationalistische Protagonist_innen und Diskurse. Eine eindeutige Ablehnung xenophober Ausgrenzung findet nicht statt. Vielmehr wird ein „besseres“ Russland propagiert. Des Weiteren bleibt die Auseinandersetzung mit dem politischen System weitestgehend oberflächlich. Antikapitalistische oder emanzipatorische Forderungen kommen nur selten vor. Das Mantra nach „freien Wahlen“, die offenbar alles ändern würden, bleibt immer erhalten. Soziale Kämpfe oder Solidarität werden nur marginal thematisiert. Es ist eben doch in erster Linie der Protest einen jungen Stadtmittelschicht. Umso wichtiger ist, daß emanzipatorische Aktivist_innen den Protest begleiten und andere Diskurse setzen.
Mehr Informationen zu Nationalismus in Russland bei 19januar.noblogs.org