Die neue deutsche Frage (III)

Erstveröffentlicht: 
04.11.2010

BERLIN (Eigener Bericht) - Weitreichende Überlegungen über eine innere Umgestaltung Deutschlands begleiten die Berliner Debatte über ein Ende der "europäischen Ordnung von Maastricht". Wie die deutsche Kanzlerin vor dem "Integrationsgipfel" am gestrigen Mittwoch ankündigte, müssen Migranten, die sogenannte Integrationsangebote nicht wahrnehmen, künftig Sanktionen in Kauf nehmen. Damit erhöht die Regierung den Druck besonders auf migrantische Unterschichten, die momentan im Mittelpunkt einer rassistisch geprägten Kampagne ("Sarrazin-Debatte") stehen. Mehrere weiterreichende Forderungen werden laut. All diese Schritte, die sich explizit gegen angeblich unproduktive Bevölkerungsgruppen richten, genügten keinesfalls, hört man in Teilen des Berliner Establishments; so wird ein hochrangiger Berater aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) mit der Erklärung zitiert, gegen Einwanderer seien "drastische Maßnahmen" erforderlich, die "die jetzige Generation der Politiker nicht akzeptieren" könne. Die Überlegungen, die darauf zielen, die innere Formierung Deutschlands voranzutreiben, gehen mit der Debatte über ein mögliches Ende der Europäischen Union sowie einen eventuellen nationalen Alleingang Berlins im Kampf um globale Macht einher. Im Gespräch ist seit Monaten dabei auch ein Rückgriff auf diktatorische Praktiken.

 

Messbare Zielvorgaben
Wie die deutsche Kanzlerin mitteilt, müssen Migranten, die sogenannte Integrationsangebote des deutschen Staates nicht wahrnehmen, in Zukunft mit Sanktionen rechnen. Dies kündigte Angela Merkel vor dem gestrigen Berliner "Integrationsgipfel" an. Mit dem "Integrationsgipfel" sei ein "Aktionsplan" zur Umsetzung des "Nationalen Integrationsplans" auf den Weg gebracht worden, mit dem "messbare Zielvorgaben für eine verbindliche Integrationspolitik" etabliert würden, teilt die Bundesregierung mit.[1] Es gebe "unter Migranten weitaus mehr Hartz-IV-Bezieher als unter Deutschen", sagte die Kanzlerin über bildungsferne Einwanderer, die meist in die Bundesrepublik geholt worden waren, um unter miserablen Arbeitsbedingungen Fließbandtätigkeiten auszuführen, die aufgrund der Reduzierung dieser Arbeitsplätze jedoch inzwischen oft arbeitslos und damit von staatlichen Sozialleistungen abhängig geworden sind. "Das muss sich ändern", erklärte Merkel. Es sei jedoch bei alledem auch zu berücksichtigen, dass Migranten mit einem Hochschulabschluss oft die Bundesrepublik verließen. Diese müssten zum Bleiben ermutigt werden: "Uns sollte viel daran liegen, diesen qualifizierten Kräften bei uns eine Chance zu geben."[2]

Migrantische Unterschichten
Mit den Forderungen vom gestrigen Mittwoch erhöht die Bundesregierung den Druck insbesondere auf migrantische Unterschichten, die zur Zeit im Mittelpunkt einer rassistisch geprägten Kampagne stehen. Die zentralen Stichworte der Kampagne finden sich in der Schrift "Deutschland schafft sich ab" des einstigen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin, die mittlerweile in einer Auflage von weit über einer Million Exemplaren gedruckt wurde und bei - je nach Umfrage - rund 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung Zustimmung findet. Sarrazin, dessen Ansichten schon seit Jahren bekannt sind, hat sein Buch nach eigenem Bekunden nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Anfrage eines Verlages aus dem Bertelsmann-Konzern verfasst. Er unterscheidet Migranten nach ökonomischer Produktivität. So bedauert er, dass etwa "die hochbegabten Inder und Chinesen leider nicht" nach Deutschland kämen: "Sie sind wirtschaftlich leistungsfähig, überwinden Hürden am Arbeitsmarkt schnell, und ihre Kinder zählen in den Schulen zu den Besten." Hingegen hätten Einwanderer aus der Türkei und den arabischen Ländern "Schwierigkeiten im Schulsystem" und "am Arbeitsmarkt"; gerade sie bekämen aber überdurchschnittlich viele Kinder. Wegen ihrer Unproduktivität müssten, insbesondere wenn sie Sozialleistungen bezögen, Maßnahmen gegen sie ergriffen werden.[3]

Kein Weltsozialamt
Während Sarrazin vom Berliner Establishment offiziell weithin gemieden wird und sich jetzt auch einem Parteiausschlussverfahren der SPD gegenübersieht, haben sich führende Regierungspolitiker mittlerweile seiner offenen Agitation gegen migrantische Unterschichten angeschlossen. "Wir wollen nicht zum Sozialamt für die ganze Welt werden", ließ etwa der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) verlauten [4]; wer "ein Arbeitsplatzangebot oder eine notwendige Qualifizierung ablehnt", dem müssten "die Sozialleistungen gekürzt oder (...) komplett gestrichen werden" [5]. Es sei "klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun"; Deutschland solle daher jede Zuwanderung aus den genannten Weltregionen vermeiden. Wer sich "vorsätzlich" der "Integration" verweigere, müsse in Zukunft sanktioniert und gegebenenfalls aus der Bundesrepublik abgeschoben werden, fordert die CDU-Spitzenkandidatin bei den Landtagswahlen 2011 in Rheinland-Pfalz und parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Verbraucherschutz, Julia Klöckner.[6] "Deutschland ist kein Weltsozialamt", heißt es in einem "Integrations- und Zuwanderungskonzept für Deutschland" der FDP in Hessen.[7] Im Leitantrag für den CDU-Vorstand zum Parteitag Mitte November ist die Forderung zu finden: "In Fällen von Integrationsverweigerung darf es keine Toleranz mehr geben."[8]

Drastische Maßnahmen
Mittlerweile werden auch in den Regierungsparteien noch weiter reichende Forderungen laut. So verlangt die Senioren-Union, eine Unterorganisation von CDU und CSU, ab 2012 sollten nur noch diejenigen Familien Kindergeld erhalten, "von denen mindestens ein Elternteil vor dem 1. Januar 2000 Euro-Bürger war".[9] Dies läuft auf die komplette Streichung des Kindergeldes für Familien aus Nicht-EU-Staaten hinaus. Wie der stellvertretende Vorsitzende der Senioren-Union, Leonhard Kuckart, einräumt, habe man "hauptsächlich Familien aus dem islamischen Kulturkreis im Blick". "Wer uns zugewandert ist, unserem Land aber nur auf der Tasche liegen will und es sich zur Lebensaufgabe macht, unsere sozialen Sicherungssysteme zu belasten", heißt es bei der Senioren-Union, "sollte Deutschland wieder verlassen." Vorstellungen, denen zufolge die Regierungspolitik gegenüber den migrantischen Unterschichten noch deutlich radikalisiert werden müsse, sind auch im Berliner Polit-Establishment anzutreffen. Wie Alexander Rahr, der Leiter des "Berthold Beitz-Zentrums" ("Kompetenzzentrum für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien") der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), erklärt, wüssten die Behörden zur Zeit nicht, was mit den offiziell 5,6 Millionen muslimischen Migranten in Deutschland geschehen solle. Rahr wird in einem Interview mit der russischen Zeitung "Iswestija" mit den Worten zitiert, es seien "drastische Maßnahmen erforderlich, die die jetzige Generation der Politiker aber nicht akzeptieren könne".[10]

Ein kommissarischer Diktator
Der rapide zunehmende Druck auf migrantische Unterschichten soll nicht nur auf lange Sicht den staatlichen Sozialhaushalt entlasten, sondern zudem angeblich unproduktive Bevölkerungsgruppen noch weiter an den Rand der Gesellschaft oder gar zur Rückwanderung drängen. Zugleich wird die "deutsche Leitkultur" zum Maßstab erklärt, um eine weitgehende Formierung der bundesdeutschen Gesellschaft zu erreichen. Die Maßnahmen werden zu einem Zeitpunkt eingeleitet, da Deutschland sich in seinem Streben nach weltweiter Macht auf eine strategische Wegscheide zubewegt. Berliner Außenpolitiker debattieren seit Beginn der Eurokrise im Frühjahr über ein Ende der "europäischen Ordnung von Maastricht". Wie der European Council on Foreign Relations berichtet, gewinne die Ansicht, Deutschland könne "alleine schneller, weiter und besser vorwärts kommen" als in der EU, in Berlin gegenwärtig an Attraktivität (german-foreign-policy.com berichtete [11]). Ein erneuter Berliner Alleingang freilich setzt eine stark intensivierte Formierung der deutschen Gesellschaft voraus. Der von Teilen des Establishments als unzureichend empfundene gegenwärtige Stand der Formierung ist auch Ursache dafür, dass in der Bundeshauptstadt über die Nutzung diktatorischer Regierungselemente diskutiert wird (german-foreign-policy.com berichtete [12]). So sei zur Zeit "verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die Rede", schrieb der Berliner Politik-Professor Herfried Münkler im Frühjahr in der Zeitschrift "Internationale Politik": "Es gibt bloß kein Verfassungsorgan, das sich auf das Risiko der Einsetzung eines kommissarischen Diktators einlassen will."[13] Das Nachdenken über diktatorische Praktiken begleitet ebenso wie das rabiate Vorgehen gegen angeblich unproduktive migrantische Unterschichten die Bemühungen Deutschlands, im Kampf um weltweite Macht voranzuschreiten - mit oder ohne EU.


[1] 4. Integrationsgipfel: Messbare Ziele für Integrationspolitik; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 03.11.2010
[2] Merkel: Frachtgutkontrollen weltweit besser abstimmen; Passauer Neue Presse 03.11.2010
[3] Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010 (Deutsche Verlags-Anstalt)
[4] "Wir wollen nicht zum Welt-Sozialamt werden"; www.sueddeutsche.de 16.10.2010
[5] Seehofer wettert zurück; www.mdr.de 11.10.2010
[6] Klöckner fordert härtere Sanktionen gegen integrationsunwillige Ausländer; www.ad-hoc-news.de 22.10.2010
[7] "Deutschland ist kein Weltsozialamt"; www.hr-online.de 25.10.2010
[8] CDU droht Integrationsverweigerern; www.n24.de 20.10.2010
[9] Senioren-Union will Migranten das Kindergeld streichen; Handelsblatt 29.10.2010
[10] Merkel: Multikulti in Deutschland gescheitert - "Iswestija"; de.rian.ru 18.10.2010
[11] s. dazu Die neue deutsche Frage (I)
[12] s. dazu Ein klein wenig Diktatur
[13] Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie; Internationale Politik Mai/Juni 2010