Schon wieder hat eine Qualitätskontrolle versagt. Die neue Staatsschutzaffäre zeigt beispielhaft: Es ändert sich nichts, wenn nur die Aufsicht verbessert wird.
Von Kaspar Surber
Müsste man für ein Land einen Staatsschutz erfinden, man könnte den Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) nicht übertreffen. Beschrieben wird nämlich ein Staatsschutz, der sich selbst erfindet: der Dienst für Analyse und Prävention DAP mit seinem Chefschnauz Urs von Daeniken und seiner Datenbank ISIS-NT. Bei der Einführung im Jahr 2005 wurden darin 76 000 Personen gespeichert. 2010 sind es bereits 200 000 Personen, die die Schweiz gefährden (mit angeblich gewalttätigem Extremismus, verbotenem Technologietransfer und so weiter).
Die Zahl der Daten ist zum einen gestiegen, weil sie nach den mechanischen Kriterien eines 556 Seiten starken Handbuchs eingegeben werden: Drittpersonen beispielsweise rücken bei mehr als zwei Meldungen automatisch in den inneren Kreis der staatsgefährdenden Objekte vor. Die Zahl ist zum andern nicht gesunken, weil bis 2008 auf die vorgeschriebenen Überprüfungen verzichtet wurde: Unter Christoph Blocher als Justizminister wurde das Personal, das für die Qualitätssicherung zuständig gewesen wäre, ebenfalls für die Datenerfassung eingespannt. In einer bewussten Irreführung wurde später bei allen Einträgen eine Überprüfung am 31. Dezember 2004 vermerkt.
«Sobald wir mehr Leute haben, wird auch mehr produziert», sagt ein DAP-Mitarbeiter im GPDel-Bericht. Die StaatsschützerInnen sehen in der Datenbank kein Verdachtsregister. Ihr Zweck sei es vielmehr, «einen Nachweis für die Staatsschutztätigkeit zu liefern». Es wird also nicht überwacht, weil es einen Staatsschutz gibt. Es wird überwacht, damit es ihn gibt. Er ist der Grund und er schafft den Verdacht.
Unheimliche Kontinuität
In der Zentrale in Bern beschäftigt der Staatsschutz insgesamt 120 MitarbeiterInnen, weiter verfügt er über kantonale Ableger mit 84 Vollzeitstellen. Im Bericht dokumentiert sind Basel, Bern und Genf, jeden zweiten Tag trifft in diesen Städten von der Zentrale eine Anfrage zur Überprüfung ein. Bern und Genf unterhalten zusätzlich eigene Datenbanken.
Der unglaublichste Fall, auf den die GPDel bei ihrer Untersuchung stiess, ist jener der Basler Flüchtlingshelferin Anni Lanz. Sie wird mehrmals an den DAP gemeldet – unter anderem mit persönlichen Mutmassungen, wonach sie eine lockere Ehe führe. Lanz, Ehrendoktorin an der Uni Basel, wird als «gewaltorientierte Aktivistin» einer «Kategorie B» zugeordnet. Damit erhält sie automatisch den Zusatzeintrag «Verdacht Schwarzer Block».
Und es gibt eine unheimliche Kontinuität in der Beobachtungsweise des Staatsschutzes: Sie ist als genuin fremdenfeindlich zu bezeichnen. Schon in den papierenen Fichen waren zu mehr als zwei Drittel AusländerInnen erfasst. In der heutigen Datenbank sind es fünfundneunzig Prozent. Die Kontinuität lässt sich am Beispiel der fotografischen Erfassung von Reisepässen an der Grenze zeigen: Diese wurde 1968 bei der Befragung von Ostreisenden zur Spionageabwehr begründet. Heute wird das Fotopassprogramm für eine vom Bundesrat definierte Auswahl «bestimmter Staaten» fortgesetzt.
«Es kann mit guten Gründen davon ausgegangen werden, dass ein Vielfaches der Fälle, die untersucht wurden, noch aus ISIS gelöscht werden müssen, da ihre Informationen gar nie ausreichend relevant waren oder zu lange gespeichert», schreibt die GPDel. Kurz: Der Grossteil der erfassten Daten ist irrelevant. Die GPDel schildert einen vom irren Erfassungseifer getriebenen, in den Kantonen offenbar verdoppelten Staatsschutz, der sich nicht um die Qualität und die Kontrolle seiner Daten kümmert. Dabei war dies das grosse Versprechen eines «reformierten Staatsschutzes», als in den Jahren 1989/1990 der Fichenskandal bekannt wurde.
Leeres Versprechen
In einer Rede auf seinen Schriftstellerkollegen Václav Havel bezeichnete Friedrich Dürrenmatt im November 1990 die Schweiz als Gefängnis. Abgeschottet von der Welt, werde die Illusion der Freiheit aufrechterhalten, indem die Bewohner Wärter und Gefangene zugleich seien. In der Rede heisst es: «Weil auch die Wärter Gefangene sind, kann unter ihnen der Verdacht aufkommen, sie seien Gefangene und nicht Wärter oder gar frei, weshalb die Gefängnisverwaltung Akten von jedem anlegen liess, von dem sie vermutete, er fühle sich gefangen und nicht frei.» (...) «Aber da das Aktengebirge so gewaltig ist, kam die Gefängnisverwaltung zum Entschluss, dass es sich selber angelegt hat. Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich. Die Furcht, im Gefängnis nicht sicher zu sein, hat das Aktengebirge hervorgebracht.»
Die Geschichte wiederholt sich nie gleich, nur ähnlich. An die Stelle der militärischen Ordnung der Wärter und ihrer Bewachung, die 1989 zusammenbrach, ist heute eine andere getreten. Aber welche? Augenfällig in der im Übrigen ertragreichen Untersuchung der GPDel ist die Sehnsuchtsmetapher von der «besseren Kontrolle». Gravierend erscheint weniger, dass der Staatsschutz falsche Daten gesammelt hat. Sondern dass sie nicht nachträglich überprüft und gelöscht wurden. Dementsprechend zielen die Empfehlungen der parlamentarischen Oberaufsicht, die sich selbst an einer Stelle als «Kontrolle der Kontrolleure» bezeichnet, auf die Aufsicht: Allfällig betroffene BürgerInnen erhalten nicht etwa Einsicht in die Daten, stattdessen sollen alle Einträge, die vor fünf Jahren erstellt worden sind, gesperrt und von einem Datenschutzbeauftragten geprüft werden.
Die Regeln ändern
Es lassen sich durchaus Parallelen zwischen der Demokratiekrise durch den Staatsschutz zur Demokratiekrise wegen des Finanzplatzes ziehen: Auch dort hat mit der Finma eine Institution versagt, die die Aufsicht schon im Namen trägt. Auch dort drehen sich die Diskussionen nur um eine Verbesserung der Kontrolle, beispielsweise der Eigenmittel. Der systembedingte Eifer der Staatsschützer, die systembedingte Gier der Banker ...
Die Wiederholung des Fichenskandals ist Warnung genug. Nicht die Aufsicht, sondern die Regeln müssen geändert werden: Das heisst Einsicht für die Betroffenen und die Abschaffung des Staatsschutzes. Stattdessen strafrechtliche Verfahren, wenn tatsächlich ein begründeter Anfangsverdacht besteht.
An die Stelle der Ordnung der Wärter und ihrer gegenseitigen Bewachung ist eine der Kontrolleure und ihrer wechselseitigen Evaluation getreten. Der Veränderungswille beschränkt sich gegenwärtig auf die Verbesserung der Kontrolle.
Es ist wie bei der Fussball-WM: Dort wird auch zuerst über die Schiedsrichter diskutiert.