Haben Schaulustige dem Flüchtling, der sich im ostthüringischen Schmölln aus dem Fenster stürzte, "Spring doch!" zugerufen? Thüringens Polizei sieht dafür keine Beweise. Auch die Einsatzkräfte bestätigten solche Rufe nicht. Der Leiter der Einrichtung, in der der Somalier lebte, stellte sich dagegen hinter seine Mitarbeiterin, die angab, derartiges gehört zu haben. Thüringens Ministerpräsident Ramelow fordert Aufklärung.
Nach dem tödlichen Sprung eines Flüchtlings aus dem fünften Stock eines Plattenbaus im ostthüringischen Schmölln ermittelt weiter die Polizei. Sie geht unter anderem der Frage nach, ob Schaulustige die Aktion mit Rufen wie "Spring doch!" begleitet haben. Ein Polizeisprecher sagte MDR THÜRINGEN am Sonntag, die Kriminalpolizei habe die in Schmölln während des Vorfalls eingesetzten Polizeibeamten und Feuerwehrleute befragt. Von diesen habe aber niemand derartige Sprüche bestätigen können.
Polizei: Zeugin verwendet viele Konjunktive
Ein Sprecher der Landespolizei Thüringen sagte: "Wir haben dort keine Person brüllen hören oder ähnliches." Eine vom Schmöllner Bürgermeister als Quelle für die Aussage, es sei zu "Spring doch!"-Rufen gekommen, angegebene Frau habe auf Nachfrage der Polizei sehr zurückhaltend und im Konjunktiv geantwortet. Die Frau habe gesagt, sie wisse von jemandem, der sinngemäß gehört haben wolle, dann soll er doch springen. Der Polizeisprecher sagte, schon wegen der vielen Konjunktive der Frau wisse er nicht, was tatsächlich gehört worden sei. Er könne aber nicht definitiv ausschließen, dass tatsächlich derartige Rufe gefallen seien.
Einrichtungsleiter beharrt auf Darstellung
Der Geschäftsführer des Trägerunternehmens der zuständigen Betreuungseinrichtung, David Hirsch, beharrte jedoch auch am Sonntag darauf, dass derartige Rufe gefallen seien. Hirsch sagte MDR THÜRINGEN, es sei zwar nicht mehr wörtlich zu rekonstruieren, aber eine Mitarbeiterin die mit versucht habe, den Jugendlichen vom Sprung abzuhalten, habe sehr deutlich gehört, dass von draußen her etwas wie "Spring doch!" oder "Spring endlich!" gerufen worden sei. Offensichtlich gebe es noch immer einige Unverbesserliche, die es noch immer nicht kapiert hätten: "Denn so etwas ist nicht zu akzeptieren und geht gar nicht." Ein Polizeisprecher erklärte, wer das gerufen haben soll, sei bisher nicht bekannt: "Wir gehen diesen Hinweisen aber nach."
Schmöllns Bürgermeister stößt Debatte an
Äußerungen von Schmöllns Bürgermeisters Sven Schrade (SPD) hatten am Samstag darauf hingedeutet, dass derartige Kommentare gefallen sein sollen. "Uns liegen auch Informationen vor, dass einige, ich nenne sie mal Schaulustige, diesem Vorfall lange beigewohnt haben, und wohl auch Rufe gefallen sein sollen wie 'Spring doch!' ", sagte Schrade MDR THÜRINGEN. "So etwas kann man nur verurteilen."
Schaulustige vor Ort bestätigt
Auch wenn die bisherigen polizeilichen Ermittlungen dies nicht ergeben haben, bestätigten Polizei und Feuerwehr allerdings, dass sich Schaulustige vor der Unterkunft aufhielten. Ein MDR-Reporter vor Ort sprach von 30 bis 40 Menschen. Nach Polizeiangaben filmte ein Passant die Szenen mit einem Handy. Er sei noch vor Ort aufgefordert worden, das Video zu löschen, was er vor den Augen der Beamten auch getan habe.
Dolmetscher war auch vor Ort
Laut Polizei hatte sich der Flüchtling am Freitag aus dem Fenster seiner Unterkunft gestürzt. Die Ermittler gehen dabei weiterhin von Suizid aus. Den Angaben zufolge war der Somalier vor seinem Sprung bereits wegen psychischer Probleme in Behandlung gewesen. Kurz vor der Tat habe er in der Unterkunft randaliert, weshalb die Polizei gerufen wurde. Die Beamten konnten den Asylsuchenden aber nicht mehr vom Sprung aus dem fünften Stock des Plattenbaus abhalten. Bei den Gesprächen musste auch ein Dolmetscher hinzugezogen werden, da das Opfer so gut wie kein Deutsch sprach. Einem Sprecher zufolge sprang der Flüchtling neben ein von der Feuerwehr aufgespanntes Sprungtuch. Er starb später in einem Krankenhaus.
"Bild": Rufe sollten zum Sprung in Sprungtuch ermuntern
Die "Bild"-Zeitung hatte am Samstag Anwohner zitiert, die durchweg behaupteten, den Flüchtling gar nicht oder wenn, dann nicht aus rassistischen Gründen zu dem Sprung angefeuert zu haben. Einige sagten auch, sie hätten dem Jungen zugerufen, er solle springen, damit er im sicheren Sprungtuch lande.
Bürgermeister will Ermittlungen abwarten
Schmöllns Bürgermeister Schrade hofft nach dem Vorfall auf eine schnelle
Aufklärung durch die Polizei. "Unsere Stadt wird in einem Licht
dargestellt, das uns nicht gerecht wird", sagte der SPD-Politiker am
Sonntag. "Wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, wissen wir, was
wirklich vorgefallen ist." Es gehe aber nicht darum, den Mantel des
Schweigens über den Vorfall zu legen. Die Integrationsarbeit in seiner
Stadt nannte der Bürgermeister vorbildlich. Es gebe seit Jahren eine
Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge. "Wir haben ein ganz engagiertes
Netzwerk an Ehrenamtlichen, die sich um Flüchtlingshilfe bemühen und
die eine Vorbildfunktion für die Region haben."
Bereits zuvor
hatte Schrade darauf verwiesen, dass zunächst die Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft abgewartet werden müssten. Sie werde bei solchen
Fällen automatisch eingeschaltet. Sollte es "Spring doch!"-Rufe wirklich
gegeben haben, sei das nicht tolerierbar, schrieb der Bürgermeister auf
Facebook. "Es ist verachtenswert, ja unmenschlich. Ob Geflüchtete oder
hier Lebende: Wir alle sind Menschen." Zudem schrieb er: "Leider
erreichten mich heute auch Bildaufnahmen, die den Jungen auf dem
Fensterbrett sitzend zeigten, versehen mit unbegreiflichen Kommentaren."
Unterschiedliche Altersangaben
Nicht restlos geklärt ist weiterhin auch das Alter des Toten. Die Polizei sprach von 17 Jahren. Vom Landratsamt wurde das Alter mit 16 Jahren angegeben. Bürgermeister Schrade und die Betreuungseinrichtung sprachen von 15 Jahren. Laut Polizei sind unterschiedliche Altersanagaben bei "unbegleiteten minderjährigen Ausländern" nichts ungewöhnliches, vor allem wenn sie ohne Pass nach Deutschland kommen.
Ramelow fordert Aufklärung
Ministerpräsident Bodo Ramelow forderte eine genaue Untersuchung des Falls. Die Umstände müssten sorgsam ermittelt werden, sagte der Linke-Politiker MDR THÜRINGEN. Er kenne die Stadt Schmölln als weltoffen und vorbildlich engagiert in der Flüchtlingsarbeit, fügte Ramelow hinzu. Ausschließen könne er nicht, dass Anwohner den jungen Flüchtling zu seinem Sprung in den Tod ermuntert hätten oder Schaulustige die Rettungsbemühungen der Sanitäter mit ihren Handys gefilmt oder fotografiert hätten. Dass es zu viele Gaffer auf der Welt gebe, zeige sich schließlich bei jedem Autobahnunfall. Aber es sei nicht statthaft, daraus zu schließen, dass es diese Vorfälle gegeben habe. Zuvor hatte Ramelow noch getwittert: "Diese Gier nach spektakulärem Geschehen lässt die Humanität auf der Strecke." Auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, zeigte sich erschüttert über den Todessprung: "Es ist menschenverachtend, dazu aufzurufen." Es sei unfassbar, wie Verzweifelten und Schutzsuchenden in diesen Zeiten Hass und Verachtung entgegenschlage.