Polizei wollte linkes Wohnprojekt in Tübingen mit Videokameras überwachen
In Tübingen hat die Polizei versucht Nachbarn davon zu überzeugen, auf ihrem Grundstück Kameras zur Überwachung des Nebenhauses installieren zu lassen. Ziel der polizeilichen Überwachungsmaßnahme war die Schellingstraße 6, ein traditionsreiches Hausprojekt, das 1980 besetzt und danach einige Zeit Studierendenwohnheim gewesen war. 2004 war die stattliche Kaserne durch Kauf und Eintritt ins Mietshäusersyndikat in Besitz der Bewohner und Bewohnerinnen übergegangen.
Diese haben sich nun vergangene Woche in einem Brief an die Öffentlichkeit gewandt. Darin erläutern sie ihre Betroffenheit und Empörung darüber, dass einer ihrer Nachbarn gegen sie spionieren sollte: »Man denkt an die Stasi, man denkt an den Film ‚Das Leben der Anderen‘, man denkt an die Überwachungsskandale rund um die Geheimdienste«, teilten sie zusammen mit befreundeten Gruppen mit.
Nicht nur das Kommen und Gehen der 110 BewohnerInnen sowie ihrer Gäste wären von der Überwachungsmaßnahme betroffen gewesen, heißt es im Schreiben der Schellingstraße. Auch die MitarbeiterInnen der Firmen im Untergeschoss, die BesucherInnen des Infoladens und des Umsonstladens wären aufgezeichnet worden. Möglicherweise hätte sogar durchs Fenster in einige WG-Zimmer hineingefilmt werden können, vermuten die Betroffenen.
Gedanken über die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme hatten sich offensichtlich auch die Nachbarn gemacht, auf deren Grundstück die Kameras angebracht werden sollten. Das »Schwäbische Tagblatt« hat mit einem jungen, relativ neu zugezogenen, Mann aus dem betreffenden Nachbarhaus gesprochen. Bei ihm hätten zwei Polizeibeamte in Zivil geklingelt, so berichtete das »Tagblatt« am vergangenen Mittwoch. In seiner Wohnung sollen die Beamten ihm dann erklärt haben, es handele sich um eine »diffizile Angelegenheit«, ein Kriminalhauptkommissar der Tübinger Polizei habe ihn gefragt, ob er das mit den brennenden Autos mitbekommen habe. Und: In der Schellingsstraße 6 gebe es ja eine linke Szene. Die Beamten fragten schließlich, ob sie Videokameras auf seinem Grundstück zur Überwachung von Vorder- und Hintereingang des Wohnprojektes Schellingstraße aufstellen dürften. Der Mann lehnte ab.
»Hätte ich das gemacht, hätte ich keinem meiner Nachbarn mehr in die Augen schauen können«, sagte er dem »Schwäbischen Tagblatt«. Es sei eine Frechheit, Nachbarn so gegeneinander auszuspielen. Ein Beamter hätte dann gefragt, ob er vorbestraft sei. Und als der Tübinger dies verneinte, habe der Polizist erwidert: »Das wissen wir schon.« Frage und Hinweis habe der Mann als Einschüchterung empfunden, berichtete die Zeitung weiter.
Bei den erwähnten Brandanschlägen handelt es sich möglicherweise um militante Aktionen, die Unbekannte Ende Juni in Tübingen zur Unterstützung des Berliner Hausprojektes Rigaerstraße 94 durchgeführt hatten. Drei Mercedesmodelle der E-Klasse waren dabei in Flammen aufgegangen. »Finger weg von der Rigaer« und »solidarische Grüße aus Tübingen!«, hieß es in einem flankierenden Bekennerschreiben auf der linken Internetplattform »Indymedia«. Die hochpreisigen Wagen waren offensichtlich an einer Straße zwischen vier bekannten Tübinger Hausprojekten geparkt worden. Eine Nacht später brannte auch noch ein BMW in der Weststadt aus. Die Tübinger Polizei schweigt zu den laufenden Ermittlungen und zur geplatzten Überwachungsmaßnahme.