Schwer verletzt überlebt ein Kölner Kaufmann 2011 die chaotische Festnahme durch ein Spezialeinsatzkommando der Polizei. Ein Video von der Aktion legt nahe, dass die Elitecops vollkommen unkontrolliert auf den Mann geschossen haben. Die Staatsanwaltschaft rollt den Fall auf.
Karim Panahi muss an sich halten, als er zum Tatort zurückkehrt. Hier haben sie auf ihn geschossen, über hundert Mal. Dort auf dem Hof, nahe dem Kölner Großmarkt am 19. Juni 2011 gegen 20.54 Uhr. An jenem Sommerabend als der Gemüsehändler und Restaurantlieferant das Büro verlässt und in seinen weißen Audi R8 steigt. Der Motor des 420 PS-Boliden röhrt auf, als zwei Männer an seinem Wagen vorbeistürmen und sich vor dem Kühler aufbauen. Der Motorenlärm schluckt die Rufe: „Polizei“.
Die Angreifer tragen nach FOCUS-Recherchen Zivil. Wer hätte ahnen können, dass es sich um ein Spezialeinsatzkommando (SEK) handelt?
Kugeln durchsieben die Windschutzscheibe
Panahi zumindest glaubt an einen Überfall. Im Jahr zuvor hatten Gangster seiner Frau zwei Mal die Tageseinnahmen geraubt. Daraufhin hat er sich zwei Schusswaffen angeschafft, eine davon liegt im Wagen.
Vor ihm blitzt es auf, Kugeln durchsieben die Windschutzscheibe, das Seitenfenster zersplittert. Ein dritter Mann taucht an der Fahrertür auf. Der Schusshagel lässt ihn zurückweichen. Der Angreifer fällt zu Boden. Noch im Liegen feuert der Beamte seine Pistole ab, bevor er sich wieder aufrappeln kann.
Auf der Flucht verliert er die Kontrolle
Projektile durchschlagen Panahis Nase und Hände. Geistesgegenwärtig duckt sich der Firmeninhaber weg. Nach einer halben Minute Trommelfeuer tritt er aufs Gas und rast blutüberströmt mit dem Wagen davon. In seinem Zustand kommt er nicht weit.
Ein paar hundert Meter weiter verliert der Geschäftsmann die Kontrolle über den Audi und prallt gegen einen Bordstein. Polizisten reißen die Tür auf, zerren ihn heraus. Er wird verhaftet und kommt in ein Justizvollzugskrankenhaus.
Hat Panahi seine Frau mit dem Tode bedroht?
Noch am Abend gibt die Kölner Polizei ein offizielles Bulletin über die Aktion heraus. Darin heißt es: Panahi habe seine Ehefrau im Sorgestreit um die Tochter mit dem Tode bedroht. Als der alarmierte SEK-Trupp ihn festnehmen wollte, habe er angefangen zu schießen, Daraufhin hätten die Elite-Cops das Feuer erwidert. 109 Schüsse haben die Spezialkräfte abgegeben, so viele Projektile finden sich am Tatort wieder. Dass Panahi überlebt, ist schlicht ein Wunder.
Für Polizei und Staatsanwaltschaft steht fest, dass die Polizisten in Notwehr handelten. In Panahis Waffe fehlt eine Patrone. Ein klares Indiz, so die Ermittler, dass der Verdächtige die Schießerei begonnen habe.
Erhebliche Zweifel an der SEK-Version
Nach FOCUS-Informationen bestehen inzwischen erhebliche Zweifel an dieser Version. Zumal eine Überwachungskamera vom Bürodach des Händlers den SEK-Angriff gefilmt hat. Der Clip, der FOCUS vorliegt, zeigt zum ersten Mal Bilder von einem realen Einsatz der geheimnisumwitterten Spezialeinheiten.
Der Film legt den Verdacht nahe, dass die Beamten vorschnell das Feuer eröffneten. Wie ein Justizsprecher bestätigt, rollt die Staatsanwaltschaft Aachen den Fall neu auf. „Die Ermittlungen dauern an“, so Staatsanwalt Jost Schützeberg. Sollte sich der Verdacht bestätigen, gerät der ohnehin umstrittenen Kölner Polizeipäsidenten Wolfgang Albers ein handfester SEK-Skandal.
Seine Hände sind noch Taub von den Verletzungen
Karim Panahi, 53, lächelt gequält, als er für den Fotografen mit dem Finger auf eines der Einschusslöcher an seinem einstigen Bürohaus deutet. Mehr als hundert Tage verbrachte er in Kliniken, wurde neun Mal operiert, allein vier Mal an der Nase. Die rechte und linke Hand fühlen sich immer noch taub an. Die Ärzte zählten fünf Schussverletzungen.
Panahi will sich zum Tatgeschehen nicht äußern. Schließlich hat ihn die Staatsanwaltschaft gut ein halbes Jahr nach dem Zugriff, im Februar 2012, wegen versuchten Totschlags angeklagt. Auf den Prozess wartet er zwar immer noch. Die Justiz zögert, den heiklen Fall zu eröffnen. Als Angeklagter tut man aber gut daran, zu schweigen und seinen Anwalt reden zu lassen.
„In dem Fall haben die Einsatzkräfte massiv gelogen“
Der Kölner Strafverteidiger Gottfried Reims hat schon viele Mord- und Totschlagsverfahren erlebt. So eines noch nicht: „In dem Fall haben die Einsatzkräfte massiv gelogen.“ Wenn überhaupt könne sein Mandant erst viel später geschossen haben. „Und zwar während seiner Flucht. Er hat geglaubt, dass ihn Gangster töten wollten.“
Die Ermittlungen zu dem SEK-Einsatz seien dilettantisch verlaufen, zürnt Reims: „Da reiht sich ein Fehler an den anderen, niemand wollte die Sache wirklich aufklären.“ So habe man völlig außer acht gelassen, „dass mein Mandant zum Zeitpunkt des Zugriffs gar nicht geschossen haben kann“, betont der Jurist. „Hätte er aus dem Auto heraus gefeuert, hätte es Schmauchspuren geben müssen“, erläutert Reims.
Rätsel um fehlende Schmauchspuren
Die aber fanden sich nicht: Weder an der Kleidung Panahis noch im Audi. Tatsächlich bestätigt der Polizei-Gutachter „das Fehlen von bleihaltigem Schmauch aus den Proben im PKW.“ Allerdings schränkt der Experte ein: „Je nach Haltung der Waffe müssen die beprobten Bereiche nicht unbedingt beschmaucht werden.“
Folgt man dem Video ist dieser Schluss nicht nachvollziehbar. Hätte Panahi als erster durch die Fahrertür geschossen, hätte man Schmauchspuren finden müssen. Anwalt Reims hat bei der Staatsanwaltschaft Aachen eine neue Expertise beantragt.
Ermittler legten keinen Wert auf Vernehmung der SEK-Beamten
Das Rätsel um die Schmauchspuren gehört zu den vielen offenen Fragen des Falles. In den Akten häufen sich Fehler und Schlampereien der Kölner Mordkommission. Der zuständige Kriminalhauptkommissar D. legte gar keinen Wert darauf, alle beteiligten SEK-Beamten zu vernehmen. So sind bis heute zwei der fünf Schützen nie zu dem Dauerfeuer an jenem Junitag befragt worden.
Auch kümmert es die Ermittler wenig, dass die Angaben der Elite-Polizisten überhaupt nicht zu den Geschehnissen auf dem Tatvideo passen. Der Einsatzleiter behauptet zum Beispiel, Karim Panahi habe mehrfach geschossen, ehe sein Team das Feuer erwidert habe. Das ist laut Video und dem Ergebnis der Spurensicherung falsch.
Erste Schüsse nur „akustisch“ wahrgenommen
Genauso wie die Aussage des SEK-Beamten, der wie seine Kollegen anonym nur unter einer Kennziffer auftritt. In diesem Fall ist es die 120. Auch er will gesehen haben, wie Panahi im Auto sitzend das Feuer eröffnet habe. Wie das geschehen sein soll, bleibt sein Geheimnis. Im Verhör gab Nr. 120 zu, dass er beim Zugriff noch auf der Anfahrt zum Großmarkt gewesen sei, die ersten Schüsse habe er nur akustisch wahrgenommen.
Der SEK-Beamte 140 erzählte, wie er zum Wagen gestürmt sei. Mit seiner Pistole habe er auf die Scheibe an der Fahrerseite eingeschlagen. Er habe „Polizei“ gerufen und dann gesehen, dass Panahi eine Pistole auf ihn gerichtet habe. „Der hat ne Waffe“, habe er geschrien.
Dann sei ein Schuss gefallen, und er habe das „Sperrfeuer“ eröffnet. Wer als erster geschossen hat, wusste der Schütze nicht zu sagen.
Aussagen passen nicht zum Video
Nur so viel: Vorübergehend soll sein Trupp das Feuer eingestellt haben. „Es wurde eine kurze Zeit abgewartet auf eine Reaktion der Zielperson, welche das Lenkrad bewegte und wiederum aus dem Fenster schoss. Daraufhin wurde das Feuer wieder eröffnet“, sagte der Beamte aus.
Auch diese Angaben passen nicht zum Video. Sie widersprechen auch der Tatsache, dass Panahi - wenn überhaupt - nur einmal geschossen hat.