Der Streit um eines der letzten besetzten Häuser in Berlin ist der Vorwand für die schlimmsten Straßenkämpfe seit Jahren. Kritiker werfen CDU-Innensenator Henkel vor, sich gegen ein vergleichsweise schwaches Opfer profilieren zu wollen.
In Berlin liefern sich Linksradikale Straßenschlachten mit der Polizei, jede Nacht brennen Autos. Im Rest der Republik dürfte das Schulterzucken hervorrufen: Ist das nicht Normalzustand? Nicht ganz. Die Berliner Polizei bilanziert am Tag nach einer Demonstration linker Gruppen für ein Hausbesetzerprojekt in Friedrichshain, es habe sich "um die aggressivste und gewalttätigste Demonstration der zurückliegenden fünf Jahre in Berlin" gehandelt. 123 Beamte wurden verletzt, 86 Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen und auch unter ihnen gab es Verletzte.
Seit drei Wochen eskaliert der Konflikt um eines der letzten besetzten Häuser der Stadt, das Gebäude in der Rigaer Straße 94 im Stadtteil Friedrichshain. Die Polizei hatte am 22. Juni bereits eine Teilräumung durchgesetzt. Der Besitzer will das Haus nach Sanierung angeblich an Flüchtlinge vermieten – was die Hausbesetzer als billigen Trick betrachten. Linksradikale haben im Internet dazu aufgerufen, in der ganzen Stadt Chaos zu stiften und einen Schaden von zehn Millionen Euro zu verursachen. Tatsächlich brannten in den vergangenen Wochen viele Autos in allen Teilen der Stadt, es wurden Fensterscheiben von Bankfilialen eingeworfen und ähnliches.
CDU-Innensenator Frank Henkel und die Polizei halten dagegen und nehmen eine linke Szene in Sippenhaft, über die kaum jemand einen Überblick hat. Beim gewalttätigen Teil dieses weit gefächerten Milieus unterscheidet der Berliner Verfassungsschutz zwischen militanten Autonomen ("schwarzer Block") und nach außen hin gemäßigteren Postautonomen und stellt fest, dass diese eingebettet seien in ein weitreichendes unterstützendes Umfeld. Die harte Linie Henkels, der bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl am 18. September als Spitzenkandidat seiner Partei antritt, ist umstritten. Bei der jüngsten Eskalation waren 1800 Beamte im Einsatz, 700 von ihnen waren aus anderen Bundesländern angefordert worden. Die Demonstration hatte rund 2000 Teilnehmer. Henkel spricht von einer "massiven linken Gewaltorgie gegen Einsatzkräfte".
Henkel eint seine Gegner
Eine Lösung für das Problem ist bisher nicht in Sicht. Christopher Lauer, Mitglied der Berliner Piratenfraktion, hatte Anfang vergangener Woche vorgeschlagen, Polizei und Hausbesetzer sollten sich gütlich einigen: Keine Polizeieinsätze mehr in der Rigaer Straße gegen sofortigen Stopp der Brandanschläge auf Autos. Lauer betont aber, es gebe keinen Nachweis dafür, dass die Bewohner des Hauses in der Rigaer Straße 94 selbst für brennende Autos verantwortlich sind. Er wirft vielmehr Henkel vor, diesen Eindruck zu erwecken, um die Polizeieinsätze zu rechtfertigen.
Henkel reagierte auf die Forderung nach Deeskalation empört: Er verhandele nicht über die Einstellung von Brandanschlägen. Das betonte er nun nach der Chaosnacht von Samstag auf Sonntag noch einmal: "Ich hoffe, dass jetzt endlich auch die letzten aufwachen und sich von ihren Fantasien verabschieden, mit diesen Autonomen zu verhandeln. Mit Gewalttätern gibt es nichts zu diskutieren. Was wir vielmehr brauchen, ist ein entschiedenes und breites Aufstehen gegen Linksextremismus, wie es gegen Rechtsextremismus zum Glück Konsens ist."
Manche bemerken ironisch, der CDU-Mann habe es geschafft, die heterogene linke und linksradikale Szene zu einen. Henkel hat es in der Tat geschafft, sich über die vergangenen Wochen zum gemeinsamen Lieblingsfeind aller in Berlin zu machen, die keine totale Abneigung gegen "Linke" und Hausbesetzer haben. Die so belegten Gebäude sind ohnehin nur noch ein Relikt der Vergangenheit. Ein weiteres steht in Kreuzberg, ein anderes im Norden Neuköllns. Angesichts der immensen Kriminalitätsprobleme in Berlin mit arabischstämmigen Clans, Rockerbanden und organisierter Drogenkriminalität habe sich Henkel zur Profilierung ausgerechnet "das schwächste Kind auf dem Schulhof" ausgesucht, findet Lauer.
Henkels vereinte Gegner konnten sich freuen darüber, dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller von der SPD seinem Innensenator in den Rücken fiel, indem er mitteile, er erwarte schon, dass die Innenverwaltung auslote, "ob und wie man Gespräche suchen" könne. Und nicht nur das: Die enorme Polizeipräsenz rund um das besetzte Haus nervt inzwischen auch viele Anwohner der umliegenden Häuser, die einen runden Tisch als klärende Maßnahme vorgeschlagen haben.
Deeskalation kann funktionieren
Zwei Monate vor den Wahlen in Berlin scheint sich die Berliner CDU aber nicht auf Deeskalation einlassen zu wollen. Ihre Strategie sieht vielmehr so aus, dass mit demonstrativer anti-linker-Politik der AfD keine Argumente geliefert werden. Für Henkel gibt es in dieser Konstellation kaum noch ein Zurück. Stimmt er Verhandlungen zu, würde er von der AfD, die sich mit einem Law-and-order-Programm in der Hauptstadt zu profilieren versucht, als Schwächling auseinandergenommen. Die hielt sich allerdings zunächst mit Statements zur Friedrichshainer Chaosnacht zurück. Bleibt Henkel bei seiner harten Linie, muss sich die Polizei für die nächsten Monate auf weitere Straßenkämpfe einstellen. Auch wenn es für Angriffe auf Polizisten natürlich trotz allem keine Rechtfertigung gibt, zeigt das Beispiel 1. Mai, dass Deeskalationsstrategien erfolgreich sein können - seit einigen Jahren verläuft die einst gewaltsamste Nacht Berlins friedlich.
Die gewaltbereiten Linksextremen haben Henkel unterdessen zusätzlich in die Ecke gedrängt. Einerseits griffen sie den Vermittlungsvorschlag des Piraten Lauer auf und boten vergangene Woche eine Art Waffenstillstand an. "Ein Abzug von Bullen und Sicherheitsfirmen aus der Rigaer 94 und die Rückgabe der Räume an die Hausgemeinschaft" würde zur Einstellung aller Aktivitäten und Angriffe führen, hieß es auf der Internetseite "Linksunten Indymedia". Und weiter: "Die Wähler/innen von Frank Henkel können ohne Sorge um ihre teuren Autos schlafen, wenn seine Einheiten aus der Rigaer 94 verschwinden." Ansonsten sehe man die Gefahr, dass Demonstranten oder Unbeteiligte "durch die anhaltende Gewaltwelle von Bullen und Sicherheitsleuten ernsthaft verletzt werden oder schlimmeres". Dann folgt eine unverhohlene Drohung: "Dann würden auch wir unser Verhältnis zur Gewalt überdenken müssen."