Friedlingen hat kein gutes Image: In dem Weiler Stadtteil trifft Multikulti auf rechte Gesinnung und organisierte Kriminalität – ein Besuch im äußersten Südwesten des Landes.
Von Dorothee Soboll und David Weigend
Fünf Leute sitzen schon mittags bei Bier und Wein im verrauchten Friedlinger Hirschstübli. Ein Stammgast schaut durch die offene Tür hinaus auf die Hauptstraße, eine grüne Tram der Linie 8 aus Basel fährt vorbei. Heiß ist es. Der Mann nimmt einen großen Schluck Pils und sagt: "Wie sich das hier entwickelt hat in den letzten Jahren ... es isch doch e Katastroph."
Damit meint er nicht nur die jüngsten Vorfälle um eine Familie, die von Rechtsextremen bedroht wurde. Spätestens seit der Gruppenvergewaltigung von zwei Teenagern in der Silvesternacht hat das Grenzviertel kein gutes Image mehr. In Polizeiberichten ist von Bandenkriminalität und Razzien im Drogen- und Rotlichtmilieu die Rede. Der Bezirk, in dem die AfD bei den Landtagswahlen im März 24,4 Prozent der Stimmen geholt hat, gilt als sozialer Brennpunkt. Das Klein-Kreuzberg am Rheinknie bezeichnete SPD-Stadtrat Johannes Foege bereits 2013 als "Problemstadtteil". Heute resümiert er: "Hier grummelt’s immer noch gewaltig."
Die Weigands polarisieren im Dreiländereck
Wir verlassen das Hirschstübli und passieren eine Shishabar, an der die albanische Flagge hängt. Anfang Juni haben laut Polizei etwa 20 Vermummte diese Bar in Wildwest-Manier kurz und klein geschlagen. Sie kamen mit Baseballschlägern, sprachen kein Wort und zogen wieder ab. Erwischt wurde keiner. Einen Monat später sind alle Spuren des Überfalls beseitigt. Der Hauptraum ist leer, im Hinterzimmer hocken eine Handvoll Gestalten mit Tunnelblick an den Spielautomaten.
Während die einen zocken, sitzen andere im schmucklosen Gastraum einer Bäckerei jenseits der Hauptstraße. Andreas und Sven Weigand, zwei Männer, die im Dreiländereck polarisieren. Die Zwillingsbrüder, 31, gehören zu einer Gruppe sogenannter Kameraden, der das Lörracher Familiengericht am Dienstag ein sechsmonatiges Annäherungs- und Kontaktverbot an die Mitglieder einer vierköpfigen Familie verordnet hat. Die Clique soll die Familie, die am Hüninger Platz wohnt, bedroht und beleidigt haben – mit rassistischem Motiv, die Frau ist mit einem dunkelhäutigen Mann verheiratet. Ein Ermittlungsverfahren läuft wegen eines Prügelangriffs auf die Frau. Auch der Staatsschutz beschäftigt sich nun verstärkt mit den Weigands. Die beiden streiten sogar ab, die Familie zu kennen. Sie behaupten, der Platz sei schon seit längerem ihr Treffpunkt an der Hauptstraße.
Warum haben sich die Weigands radikalisiert?
Bei Schinkenweckle und Kaffee erzählen die beiden viel verschwörungstheoretischen Zinnober – Deutschland GmbH, schleichende Islamisierung, solche Sachen – aber man bekommt auch eine Ahnung davon, warum sich die Weigands ausgerechnet in Friedlingen radikalisiert haben. Der Stadtteil, in besseren Jahren Zentrum der Textilfirmen, ist eingezwängt zwischen brachliegendem Güterbahngelände und Hafengebiet, ein Straßenzug wird von der Autobahnbrücke überspannt, direkt an der Grenze haben sich schon vor Jahrzehnten die typischen Etablisements angesiedelt.
Hier verbrachten sie den Großteil ihrer Jugend zwischen kosovarischen Flüchtlingsfamilien, FC-Kickplatz und Schlägereien mit türkischen Gangs oder Gruppen junger Spätaussiedler. "Wir Deutsche wurden hier allmählich zur Minderheit", behauptet Sven. "Sie bespuckten uns, nur, weil wir Deutsche waren."
Die unzähligen Dönerbuden sieht er als Sinnbild für die Verdrängung deutscher Kultur in Friedlingen. Die Weigands zimmerten sich ihr wehrhaftes Weltbild zusammen. Es blieb nicht bei Straßenrivalität, man organisierte Pegida-Aufmärsche. Im Mai gründete Andreas den Kreisverband "Die Rechte" in Weil. "Unsere Heimat hat sich verändert und irgendwas läuft hier verkehrt", sagt er. "Gehen Sie mal vor zum Islamischen Zentrum. Fühlen Sie sich da noch als Deutscher?"
Der arbeitslose Lkw-Fahrer ist ins Elsass gezogen, seine beiden Töchter sollen nicht hier aufwachsen. Auch Sven, zweifacher Vater, ist arbeitslos. Er mag die Hooliganband "Kategorie C", fühlt sich belogen, vom Oberbürgermeister, von der Bundesregierung. Bürgerwehren sieht er als legitimes Mittel, der Kriminalität im Stadtteil Einhalt zu gebieten. Von dem Annäherungsverbot lasse er sich nicht einschüchtern. "Sie können mich einbuchten und an die Wand stellen. Ich werde mich bis zum letzten Atemzug wehren."
Das klingt wie das Zitat aus einem Landserheftchen. Sein Bruder Andreas schwärmt vom Deutschen Kaiserreich: "1871, das wäre meine Zeit gewesen." Im Jahr 2016 versucht er das Bild des friedlichen Patrioten zu vermitteln. Andererseits: "Wir haben schnell 20 Leute zusammengetrommelt. Wenn es nötig ist, könnten wir bestimmte Situationen auch selbst in die Hand nehmen."
Drei weitere Menschen fühlen sich von den Rechten bedroht
Genau diese Attitüde wiederum löst bei anderen jungen Leuten im Viertel Unbehagen aus. In der Oberen Schanzstraße treffen wir Jasmin Kröhnke. Sie ist Anfang 20, arbeitet in einer Tierarztpraxis und sagt: "Wenn ich die 15 Nasen da am Hüninger Platz rumsitzen sehe, das macht mir schon ein bisschen Angst." Abends gehe sie nicht allein auf die Straße. "Selbst mit einer Freundin zusammen ist das heikel." Ihr Nachbar Luca Calvo, ein junger Italiener, meint: "Zweimal im Jahr macht die Polizei im Viertel eine Razzia. Dann ist die komplette Hood dicht. Da geht es um Waffen- und Drogengeschäfte." Kathrin Mutter, Leiterin des Weiler Polizeireviers, bestätigt diese Aktionen. Calvo erzählt, dass seine Freunde die Autotüren verriegeln, wenn sie nachts durch Friedlingen fahren.
Telefonat mit Heval Demirdögen, Leiter der Stuttgarter "Leuchtlinie", die sich für Betroffene rechter Gewalt einsetzt. Er fand heraus, dass sich im Umkreis der Familie drei weitere Menschen von denselben Rechten bedroht fühlen. "Wir haben gehört, dass hier seit Monaten etwas im Argen liegt." Inzwischen gibt es eine Erklärung des Stadtrats für Toleranz und Zivilcourage, für Demirdögen ein erster Schritt. Aber da müsse mehr passieren.
Er weist auch auf die Lage Friedlingens im Dreiländereck hin und vermutet Radikalisierungsprozesse, weil sich Rechte aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz austauschen könnten, es Rückzugsorte biete für gewaltbereite deutsche Rechte. Dass auch die Weigand-Clique gewaltbereit ist, ist für Demirdögen klar. Kontakt zu ihnen werde er nicht aufnehmen: "Wir wollen in erster Linie den Betroffenen helfen."
Über diese Unterstützung freut sich die Familie am Hüninger Platz, die uns in ihrer Wohnung empfängt. Die Mutter sitzt mit den beiden Söhnen am Esstisch, der Vater mit afrikanischen Wurzeln ist bei der Arbeit. Die Situation habe sich trotz des Annäherungsverbots nicht wesentlich verbessert, sagt die 37-Jährige. Ein Spalt zwischen Markise und Balkongeländer gibt den Blick auf den Platz frei. Auch wenn dort gerade keiner sitzt, sind die Rollläden unten. "Das Verbot gilt für acht Personen, aber es sind ja noch mehr involviert. Manche von ihnen wohnen schräg gegenüber. Sie starren uns immer an."
Rheinschule: 90 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund
Alleine aus dem Haus traue sie sich nicht, Helfer würden weiterhin die Söhne zur Schule begleiten. Sie sieht mitgenommen aus, der tätliche Angriff hat Spuren hinterlassen, ebenso die Schmerzmittel. Seit sie zusammengeschlagen wurde, ist sie krankgeschrieben. "Wenn das nicht passiert wäre, würden wir uns in Friedlingen wohl fühlen", sagt sie. Seit zehn Jahren wohnen sie hier. Der jüngere Sohn geht auf die Rheinschule, 90 Prozent der Kinder dort haben einen Migrationshintergrund. Der ältere Sohn erzählt, dass alle Klassenkameraden hinter ihm stehen. "Wenn ich ins Schwimmbad gehen will, kommen mindestens fünf Freunde mit."
Beim Termin in der Diakonie treffen wir zwei Alteingesessene, die ihr Quartier in weicherem Licht darstellen wollen: Stadtrat Andreas Rühle und Volker Hentschel, Vorsitzender des Stadtteilvereins. Rühle, seit 50 Jahren stolzer Friedlinger, kommentiert die jüngsten Vorfälle: "Was hier geschah, kann ich nicht nachvollziehen." Multikulturell und sehr lebendig, das sind für ihn die Attribute Friedlingens. Hentschel stimmt zu. Im Wohnungsbau habe sich viel getan, geplant seien ein neues Jugendzentrum, mehr Freiflächen und Sportstätten. Das Kulturzentrum mit Museum im ehemaligen Kesselhaus – auch das ist Friedlingen.
Oberbürgermeister Dietz hat eine klare Meinung
Über die hohe Kriminalitätsrate vor Ort sprechen die beiden weniger gern. Natürlich gebe es da Probleme, aber um die kümmere man sich. Gemeint ist die Sicherheitsinitiative, bei der seit 2015 die Stadt, die Polizei und der Zoll mit französischen und Schweizer Kollegen zusammenarbeiten. Fahndungsdruck erzeugen, Präsenz zeigen.
Im Rathaus, auf der anderen Seite der Bahnlinie, hat Oberbürgermeister Wolfgang Dietz (CDU) eine klare Meinung zu der Bedrohungslage gegen die Familie: "Mir gefällt das alles nicht." In seiner 16-jährigen Amtszeit habe er so etwas noch nicht erlebt. Die Stadtverwaltung könne bei einem Nachbarschaftsstreit wenig ausrichten – und das war ja der Auslöser für den Konflikt. Zum Einzug des NPD-Manns Andreas Boltze in den Stadtrat meint er: "Politisch ist das alles andere als schön. Aber gegen Dummheit können Sie nicht medizinisch vorgehen."
Treffen mit einem 83-jährigen deutschen Rentner
Am Nachmittag treffen wir an der Oberen Schanzstraße einen 83-jährigen, deutschen Rentner. Seit 40 Jahren wohne er in Friedlingen. "Man sieht hier ja keine Deutschen mehr, nur noch Türken." Ein Mistvolk sei das, man solle diese Leute zurück zu ihrem Erdogan schicken. Ein Nazi sei er nicht, das seien bloß "Abwehrgedanken". Dann widmet er sich mit seinem Pinsel wieder der Gartentür. Holzlasur, braun.